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Heimatgefühle

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Diese Straße hat kein Ende, immer weiter biegt sich der graue Balken übers Grün. Ich fahre ziellos drüber, einfach geradeaus, bald gleicht der Blick nach vorn dem zurück. Außer mir ist hier niemand. Ich könnte schneller sein, hochschalten, durchtreten. So wie immer in den vergangenen Jahren, wenn ich die Chance dazu hatte. Aber ich bin nicht auf Tempo aus. Tempo ist hier keine Tugend. Hier, das ist tief in der norddeutschen Provinz, wo Äcker, Weiden und Wälder lückenlos das platte Land bedecken. Hier, das ist Heimat. Und hierher komme ich immer öfter zurück. Weil mir das hier immer mehr bedeutet. 

  Niedersachsen, 2002. Mein Kumpel Lennart und ich sitzen vor dem Haus seiner Eltern auf einem alten Sofa. Das zerknautschte Ding steht hier schon seit Wochen am Gartenzaun. Scheinbar finden es die Sperrmüllmänner nicht zerknautscht genug und an der Straße stehend auch total normal. Wir sehen das genauso und lehnen uns zurück. Die Schule ist für immer aus, wir planen und freuen uns auf das, was kommt. Und wir schwärmen von Berlin. Oder besser: ich schwärme von Berlin. Von Partys, Mädchen und Freiheit, überhaupt von allem, was ich in Berlin vermute. Nur noch wenige Tage, dann bin ich weg, dann lebe ich da. Lennart sagt nicht viel dazu, er lässt mich in meiner Euphorie. Nur manchmal kann er seine Zweifel nicht für sich behalten. Berlin sei im Prinzip ja nicht verkehrt, meint er, aber ob ich dort auf Dauer glücklich werde, er wisse ja nicht, und wen ich da überhaupt kenne, das sei doch kein Dorf! Eben, sage ich.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



  Bisher kannte ich jeden um mich herum, und jeder kannte mich. Meine Geschichten wurden aufmerksam verfolgt und verbreitet. Mit dreizehn schlich ich zum Zigarettenautomaten und steckte mein Taschengeld hinein. Als ich mit der Schachtel nach Hause kam, waren meine Eltern längst alarmiert. Die Nachbarn konnten nicht anders, sie mussten ihr Wissen einfach immer teilen. Auch dass ich neuerdings mit Müllers Julia knutschte, war ihnen eine Meldung wert. Der Landtratsch hat Tradition und wird hier genauso gepflegt wie Ernte- und Schützenfeste, Schnaps- und Eierlaufen, Kohl- und Pinkeltouren. 

  Es ist ein Mix aus starrer Attitüde, Spießigkeit und vergilbter Kultur, der Lennart und mich geprägt hat. Wir wissen, dass wir irgendwann selbst über Dorfjungs in Anti-Haltung herziehen werden, sollte uns die Flucht nicht rechtzeitig gelingen. Die Flucht ist unsere Pflicht. Während sich Lennart von seinem anstehenden Umzug in die nächste Kleinstadt viel verspricht, ist mir kein Weg zu weit, wenn er mich nur vom einen ins andere Extrem führt. Weg vom Stillstand, hin zum Spektakel. Raus aus dem Big-Brother-Container, rein in die Anonymität. Nach Berlin.

  In Berlin gehe ich auf. Ich genieße die langen Tage und Nächte und die Fülle an Ereignissen. Zivildienst, Jobs, Studium, das alles schaffe ich, weil der Spaß drum herum nie ausbleibt. Nach der Arbeit lasse ich mich treiben, fallen, manchmal auch gehen. Ich kriege nie genug, mich fasziniert alles, ich verliebe mich schnell. Jeden Tag passe ich mich mehr an dieses aufregende Leben an und beschleunige mich selbst. Ich kann immer unterwegs sein, und ich bin immer unterwegs. Ich staune ständig über die Chancen, die ich habe. Und manchmal denke ich an zu Hause. An die Familie, an Lennart und ans Land. Für Geburtstage und Weihnachten fahre ich zurück, und je länger ich weg war, umso schneller erschlägt mich die Ruhe im Dorf. Mein Kopf und mein Körper sind darauf nicht mehr eingestellt. Ob ich es in Berlin noch aushalte, will Lennart jedes Mal wissen, und ich finde es nicht naiv zu sagen, dass ich die Stadt nie mehr verlassen will.

  Berlin, Ende 2010. Nach einem Wochenende in der Heimat schleppe ich mich hoch in den vierten Stock. Es ist kalt in meiner kleinen Wohnung, der Berliner Winter ist durch die Wände gegangen. Noch bevor ich die Heizung aufdrehe, fahre ich den Rechner hoch. Das E-Mail-Postfach füllt sich. In den Nachrichten wird auf wichtige Termine hingewiesen, die Woche soll geplant werden, wenn möglich asap (as soon as possible), wie es mehrfach heißt. Die Hetze nervt mich, hält mich aber nicht davon ab, den Hetzern freundlich zu antworten. Umgedreht klappt das ja auch. Ein paar Mails und Telefonate später bin ich verabredet und fahre in die Stadt. Nach Mitte. Wer nach Mitte fährt, fährt buchstäblich an die Oberfläche Berlins. In Mitte gibt es Menschen, die sind, glaube ich, nur Menschenhüllen. In keinem anderen Bezirk wird so viel Wert auf Äußeres und so wenig auf Substanz gelegt, wie hier. Ich kriege schlechte Laune, als ich auf mein Fahrrad steige, und noch mehr, als ich in Mitte wieder absteige. Die grellen Hipster, die hier in den Cafés hinter weißen Notebooks hängen, halten sich für das Uhrwerk der Stadt. Mir gehen sie höchstens auf den Zeiger. Sie sind es, die asap noch wichtiger für Berlin werden wollen, als sie sich ohnehin schon fühlen. Der Hipster-Kosmos wird immer größer und mein Berlin damit immer kleiner.
  Nach dem Termin brauche ich eine Pause. Ich ahne schon, wohin das führen wird.

  Niedersachsen, Ende 2011. Ich bin bei meiner Familie. Schon wieder. Meine Familie freut das, mich irritiert das. In den vergangenen Monaten haben sich meine Heimfahrten gehäuft, immer wieder will ich raus aus Berlin und zurück in mein Dorf. Dort fühle ich mich aufgefangen, ungezwungen und irgendwie vereinfacht. Zurück zur Einfachheit, denke ich, und gehe kurz hinters Haus. Absolute Ruhe. Gar nicht lange her, dass Momente wie dieser mich noch nervös machten. Jetzt wirken sie tiefenentspannend. Keine hundert Meter entfernt knabbern ein paar Schafe am Gras, noch eine Weide weiter traben Pferde auf und ab. Die Bilder entschleunigen mich. Das alles fühlt sich echt an, einfach echt. Genau wie die Begegnungen im Dorf. Die Leute reden noch übereinander, ja, aber viel mehr miteinander. Dass sie für ihr Wir-Gefühl die Traditionen brauchen, wird mir erst jetzt ganz klar.

  Viel hat sich nicht verändert. Das Abenteuer, das Berlin mal für mich war, ist endgültig vorbei, und meine Stadt schrumpft weiter zusammen. Trotzdem wage ich keinen Rückzug, denn ich glaube, dass ich Berlin noch brauche. Ich brauche Berlin, um meiner Heimat nah zu bleiben. So nah wie jetzt und hier, nur wenige Autominuten entfernt von meinem Dorf. Als ich klein war, hat mein Opa mir die Gegend gezeigt, die Natur erklärt und wohl dafür gesorgt, dass ich hierher immer zurück kommen werde. Nur musste ich den Ort wechseln, um mir der Schönheit bewusst zu werden. 

  Ich stelle das Auto ab und steige aus. Leider kein Handyempfang. Sonst hätte ich Lennart angerufen. Und ihm von der Heimat vorgeschwärmt.

Text: erik-brandt-hoege - Foto: ts-grafik.de/photocase.com

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