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Nach dem, was man in den Zeitungen liest, sollte es Olga Krause blendend gehen. Die 26-Jährige hat in der Ukraine ihren Master in Elektrotechnik gemacht, als Au-pair kam sie vor drei Jahren nach Deutschland, lernte die Sprache und blieb, der Liebe wegen und weil sie immer gehört hatte, dass die Unternehmen hier Ingenieure brauchen. Angeblich gibt es derzeit 99 000 offene Ingenieursstellen, 19 300 davon allein in Olgas Fachrichtung – Rekord, jubelt der Verein Deutscher Ingenieure. Selbst an den Philosophischen Fakultäten gilt es als ausgemacht, dass die lange Zeit belächelten Karohemdenträger am Ende doch das bessere Los gezogen haben dürften. Niemals schienen die Aussichten besser. Und trotzdem ist Olga arbeitslos.

Die Bilanz nach einem Jahr Jobsuche: fast 40 Bewerbungen, kein einziges Vorstellungsgespräch. „Meine Unterlagen bleiben wohl irgendwo in den Papierstapeln liegen“, sagt Olga. „Ich bekomme höchstens eine Standardabsage, die die Sekretärin unterschrieben hat. Manchmal nicht einmal das.“ Jetzt macht Olga in Osnabrück eine Fortbildung im Bereich „Regenerative Energien“ bei der Otto Benecke Stiftung, die sich auf arbeitslose Akademiker spezialisiert hat. Olga blättert in ihren Unterlagen und spricht die komplizierten deutschen Technikbegriffe nach. „Fluidmechanik“, sagt sie noch ein wenig holprig. Dabei geht es darum, nach welchen Gesetzmäßigkeiten sich zum Beispiel Luftströme bewegen. Für Windkraftanlagen ist das entscheidend. Nach dem Atomausstieg, so hofft Olga, hat sie mit solchen Spezialkenntnissen vielleicht bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Es ist eine rätselhafte Situation. Immer lauter klagen Politiker und Unternehmen über den Fachkräftemangel, über fehlende Techniker und Ingenieure, die sogar aus dem Ausland geholt werden sollen. Bereits jedes dritte Unternehmen, das hat der Deutsche Industrie- und Handelskammertag heraus­gefunden, befürchtet, aus Personalmangel auf Dauer schlechtere Geschäfte zu machen. Und dennoch stehen qualifizierte junge Leute auf der Straße oder werden mit befristeten Verträgen oder Leiharbeit hingehalten. Was ist da los?

Eine Antwort kann Karl Brenke geben, der beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin den Arbeitsmarkt beobachtet. Er sagt: Den Fachkräftemangel gibt es nicht. Das hänge schon allein damit zusammen, dass der Begriff Fachkraft so ziemlich alles und nichts meint: Fachkraft ist jeder Arbeitnehmer, der für seine Tätigkeit eine Qualifikation braucht, wie etwa eine Ausbildung oder ein Studium. „Der Begriff Fachkraft ist absolut dehnbar“, sagt Brenke.

Wenn man also nach Engpässen auf dem Arbeitsmarkt sucht, muss man genauer hinsehen und jeden Beruf für sich betrachten. Und nicht nur das. Manchmal muss man auch nach Branchen, Regionen oder Spezialisierungen unterteilen.

Eine recht einfache Kennzahl für ein Zuviel oder Zuwenig an Arbeitskräften ist das Verhältnis von offenen Stellen zu Arbeitslosen. Und selbst diese Zahl gibt die Wirklichkeit nur sehr ungenau wieder, weil nicht alle Unternehmen ihre freien Stellen den Arbeitsagenturen melden und auch nicht jeder Jobsuchende bei den Vermittlern vorstellig wird. Nach Berechnungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes kommen derzeit über alle Branchen und Berufe hinweg auf 100 offene Stellen rund 568 Arbeitslose. Das deutet nicht gerade auf einen allgemeinen Mangel hin. Nur in sehr wenigen Berufen ist die Relation gekippt. Etwa bei Ärzten. Oder in der Pflege: Auf 100 offene Stellen für Krankenpfleger kommen gerade einmal 85 Personen, die einen Arbeitsplatz in diesem Bereich
suchen. Was eine solche Situation bedeutet, kann man im Klinikum Fürstenfeldbruck beobachten. Weil dort schon längere Zeit zehn Pflegestellen unbesetzt sind, müssen mittlerweile sogar Patientenbetten leer bleiben. Überall hat Pflegedirektor Wilhelm Huber Stellenanzeigen geschaltet. Erst regional, dann bundesweit, und als dann immer noch keine Bewerbungen kamen, sogar europaweit. „Pflegekräfte sind fast überhaupt nicht zu bekommen“, seufzt Huber.

Im Pflegebereich herrscht also wirklich Arbeitskräftemangel. Allerdings gibt es dafür auch einen ziemlich einsichtigen Grund, glaubt Forscher Brenke: der schlechte Lohn. In Internetforen diskutieren Krankenschwestern sogar darüber, wohin sie auswandern könnten, weil die Bezahlung für ihre anstrengende Arbeit in Deutschland so mies sei. Pflegedirektor Huber aus Fürstenfeldbruck würde seinen Bewerbern gern mehr zahlen, auch wegen der hohen Lebenshaltungskosten im Münchner Umland. Das Problem sei nur, sagt er, dass das Geld dafür von den Krankenkassen kommen müsste – und die wollen sparen.

Der Pflegebereich ist damit ein Sonderfall, der viel mit der Gesundheitspolitik zu tun hat und weniger mit dem Arbeitsmarkt. In anderen Berufen, in denen die Gehälter nicht künstlich gedeckelt werden, sprechen die Zahlen gegen einen Mangel. Sogar bei den Ingenieuren, die doch händeringend gesucht werden, ist das Bild durchwachsen. Längst nicht alle Ingenieure sind gleich begehrt. In Olga Krauses Fachrichtung Elektro-
technik kommen nach Angaben des Deutschen Gewerkschaftsbundes derzeit auf 100 offene Stellen 130 Arbeitssuchende. Nach Karl Brenkes Berechnungen ist die Zahl der Arbeitsplätze für Elektrotechnikingenieure in den vergangenen Jahren sogar gesunken. Anders im Maschinen- und Fahrzeugbau. Dort wurden in den letzten Jahren mehr Jobs geschaffen. Trotzdem kommen auf 100 offene Stellen für Maschinen- und Fahrzeugbauingenieure immer noch 117 Arbeitslose. Das ist zwar schon knapp, ergibt aber rein rechnerisch noch lange keinen Mangel.

Und Karl Brenke geht auch nicht davon aus, dass der in absehbarer Zeit drohen könnte. „Es hat in den vergangenen Jahren einen regelrechten Drang in die Ingenieursstudiengänge gegeben“, sagt der Forscher – auch dank der ständigen Debatte um den Fachkräftemangel. Inzwischen kommen auf schätzungsweise 7000 bis 8000 Ingenieure aus der Maschinenbaubranche, die Jahr für Jahr aus dem Berufsleben ausscheiden, rund 12 000 Hochschulabsolventen mit einer ähnlichen Spezialisierung. Was sich da anbahnt, nennen Wirtschaftsexperten „Schweinezyklus“: Die Studierendenzahlen steigen immer dann besonders stark, wenn ein Job in einer bestimmten Branche als besonders aussichtsreich gilt. Und ein paar Jahre später gibt es darum regelmäßig mehr Absolventen als Stellen.

Aber woher kommt dann immer wieder neu die Klage über den generellen Fachkräftemangel? Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung glaubt, dass die Arbeitgeber damit vor allem ihre eigene Marktposition stärken wollen. „Es geht in der Debatte vor allem darum, Druck auf die Löhne auszuüben“, glaubt er. Je mehr Bewerber um einen Job buhlten, desto stärker sei die Position der Chefs. Sie müssten weniger bezahlen und könnten zu schlechteren Bedingungen einstellen.

Interessant ist, dass die Klage über den Fachkräftemangel gerade in Deutschland so gut verfängt. „In anderen Staaten wird nicht so viel rumgejammert“, hat Brenke beobachtet. Womöglich stößt die Sorge auf so große Resonanz, weil Deutschland damit reich geworden ist, Maschinen in die Welt zu verkaufen. Vielleicht steht im Subtext der Klage die Befürchtung, dass es unserem Land ganz schnell viel schlechter gehen könnte, wenn es keine Tüftler, Ingenieure und Entwickler mehr habe. Doch wie ernst ist diese Befürchtung zu nehmen? 

Karl Brenke winkt ab. „Alle haben immer das Schreckgespenst Mangelwirtschaft vor Augen. Dabei kann unser Wirtschaftssystem ziemlich gut mit Knappheit auf dem Arbeitsmarkt umgehen.“ Wo Arbeitskräfte fehlten, müssten Firmen erfinderisch werden. Sie müssten zum Beispiel bessere Anlagen einsetzen, sie müssten Abläufe effizienter organisieren und Mitarbeiter nachqualifizieren. Sie müssten mit den Arbeitskräften, die sie haben, sorgsamer umgehen. Die Geschichte zeigt, dass es geht. Zuletzt sind in Deutschland in den 1960er-Jahren Stellen im großen Stil unbesetzt geblieben. Trotzdem boomte damals die Wirtschaft. Ein allgemeiner Fachkräftemangel ist also eigentlich keine schlechte Situation. Die Arbeitnehmer würden mehr Wertschätzung erfahren und könnten höhere Löhne und auch bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Der Mangel könnte also sogar Vorteile haben. Für die Arbeitnehmer, nicht für die Chefs.



Text: bernd-kramer - Foto: Juri Gottschall

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