Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Bulimie der Leidenschaft

Text: monochromatisch

Die Zeit danach ist immer die schlimmste… Ich hatte es schon vorher gewußt, aber Wissen und Tun sind ja bedauerlicherweise nur entfernte Verwandte, die sich auf den üblichen Familienfeiern gerne aus dem Wege gehen. Noch auf dem Rückweg hatte ich mir fest vorgenommen, mein Ding allein durchzuziehen und beim notwendigen TankStop keine Anhalter mitzunehmen, und nun stand sie in meiner Küche und kochte Kaffee. Nicht so einen plörrigen, den man gedankenlos konsumiert, sondern einen, der einem das Leben und den Tod bewußt macht. Auf dem Tablett, mit dem sie mein Büro betrat, lagen neben der Thermoskanne und den Bechern zwei von Glücks Keksen, fein säuberlich in Zellophan gepackt. Ich goß mir und der Anhalterin Kaffee ein und brach meinen Keks auseinander. »Heute hat sich Ihr Glück total verändert « stand in kleinen Buchstaben auf dem Zettel. Ich hob meinen Kopf und sah Glück scharf an. Es stimmte. Während er sonst ein fröhliches Kerlchen mit rosigen Backen und einem lausbübischem Grinsen war, hockte er nun als kleines Häufchen in der Ecke meines Sofas. Sein Gesicht war eingefallen, die Augen tief in die Höhlen zurückgezogen. Das Licht meiner Schreibtischlampe strich über dieses Gesicht, spielte ein wenig damit und zog sich dann erschrocken zurück, um mit etwas gesünderem zu spielen… Dann lächelte er mich an. Ich wußte, daß mich dieses Lächeln als apokalyptischer Alptraum bis in alle Ewigkeit verfolgen würde…  „Boha, was ist denn mit dir passiert??“ entfuhr es mir. „Sag mal, hättest Du dir keinen anderen Zeitpunkt zum Krankfeiern aussuchen können? Hier geht sowieso im Moment alles drunter und drüber, und jetzt auch noch sowas. Die Zeit zieh ich dir vom Lohn ab, nur, daß Du’s weißt!“ „Nun mach‘ Glück mal nicht so an, ist doch nicht seine Schuld, daß er dir ständig entgleitet“, unterbrach mich meine Anhalterin. „Hast Du ihm jemals aufgeholfen, wenn er auf dem Boden lag? Nein, Du bist über ihn hinweg gestiegen, und ein paarmal hast Du ihn auch getreten, ich hab’s genau gesehen!“  „Jetzt kommst Du mir auch noch quer!“ raunzte ich sie an. „ Und überhaupt, was machst Du eigentlich noch hier, unser Deal war, daß ich dich ein Stück mitnehme, von einer dauerhaften Beziehung war dabei nie die Rede!!“ Als Traurigkeit mich daraufhin mit ihren großen, wäßrigen Augen ansah tat mir das eben Gesagte leid. „He, nun guck nicht so, ich hatte einfach gedacht, daß wir uns nach unserem letzten Treffen nie wieder sehen würden, und daß Du jetzt plötzlich wieder da bist…“ „Ach Du weißt ja, ich kann dir nie wirklich böse sein, ebensowenig, wie ich dich verlassen kann, kannst Du mich verlassen. Wir können uns nicht einfach so trennen, wir müssen uns voneinander losreißen, und ein Stück wird immer beim Anderen bleiben…“ „Nun hör aber auf, Du warst doch wieder bei Pathos im Rhetorikseminar!“  „Stimmt“, erwiderte sie, „und ich werde immer besser, nicht wahr?“ „Ach hör doch auf. Und jetzt mal ernsthaft, warum bist Du hier??“ Erstaunt sah sie mich an: „Weil Du mich brauchst?!“ Diese Antwort irritierte mich. Das sagte ich ihr auch. „Bitte? Wer bitteschön kann Traurigkeit gebrauchen?? Freude, Übermut, Heiterkeit, ja, die braucht man, aber doch nicht Traurigkeit!“ „Jetzt laß mal meine Schwestern aus dem Spiel, um die geht’s gerade nicht. Meine Geschwister spielen nur, ich bin diejenige, mit der Du arbeiten kannst.“ „Ich verstehe echt nicht, was Du meinst. Mir geht es gut, ich habe alles was ich brauche, und da gehörst Du eindeutig nicht dazu!“ „Bist Du dir dabei wirklich ganz sicher?“ flüsterte mir eine sehr bekannte Stimme ins Ohr. Sehnsucht! Von der hatte ich ja schon ewig nichts mehr gehört. Na große Klasse, ich gewann immer mehr den Eindruck, daß sich der Abend zu einem Treffen der lange nicht gesehenen Freunde und Bekannten entwickeln würde… Seufzend ging ich in die Küche, um noch einen Kaffeebecher zu holen. Während ich den Schrank öffnete hörte ich wie sich Kummer über meine Schnapsvorräte hermachte. Er versuchte, wie immer, sich darin zu ertränken, obwohl er ein ganz hervorragender Schwimmer ist.






„Sehnsucht, Du weißt ja, daß ich dich echt gerne mag, aber kannst Du nicht einmal, ein einziges Mal, ohne Kummer auftauchen?“ „Nein, wir gehören zusammen. Kummer gibt mir meine Bedeutung, ohne ihn wäre ich sinnlos, denn keiner würde mich wertschätzen können. Kummer ist der Grenzwärter zwischen dir und mir…“ „Aha, also wenn ich Kummer aus dem Weg räume, habe ich dich erreicht?“ „Aber nein. Ich hab‘ dich ja schon eine ganze Weile beobachtet, und ich fand es sehr beeindruckend, wie Du Kummer ausgewichen bist, aber zu mir bist Du deswegen nicht gelangt. Du scheinst nicht zu wissen, daß der Weg zu mir durch mein Ebenbild führt, das in dir wohnt.  Kummer ist mein Mantel, den Du öffnen mußt, um mich nackt zu sehen. Und wenn Du mich dann siehst und nicht begehrst, werde ich nie deine Geliebte, sondern immer deine Mutter sein.“ „Hm, ein bißchen verschwurbelt formuliert, aber ich stimme Sehnsucht voll zu“, meldete sich Traurigkeit wieder mal zu Wort. In diesem Moment klingelte es an der Tür. Eigentlich erwartete ich niemanden, aber das  hatte ja nichts zu sagen. Nach dem Auftreten meiner bisherigen Gäste hatte ich bei der Sache übrigens ein mulmiges Gefühl, aber das nur nebenbei. Ich öffnete, und gutgelaunt drückte mir Sympathie den obligatorischen Gästewein in die Hand und zog mit Erinnerung und Empathie an mir vorbei in die Küche, wo sich die anderen mittlerweile über den Inhalt meines Kühlschrankes hermachten. Es würde ein interessanter Abend werden, deswegen ließ ich die Tür leicht geöffnet und folgte den anderen. „Hallo?? Sagt mal, wißt ihr eigentlich wie spät das ist? Und was ist eigentlich los hier? Ich kann mich nicht erinnern, euch eingeladen zu haben!“, rief ich aus. „Oh, na beim Schließen dieser Gedächtnislücke kann ich dir sicherlich helfen“, antwortete Erinnerung und nahm noch einen Happen Avocado zu sich. „Liebeskummer wär‘ nicht schwer - wenn nur Erinnerung nicht wär…“ sinnierten Not und Elend recht unvermittelt in den Raum. „Liebeskummer? Ich? Na das wär‘ mir aber neu!“ entrüstete ich mich. „Hm, und was glaubst Du, warum ich hier bin?“, fragte mich Traurigkeit. Über die Frage mußte ich erstmal nachdenken. „Hm, na und wenn schon, das kann ich auch ganz prima mit mir alleine ausmachen. Für was sollte ich denn euch dazu brauchen? Ich…“  „Oh, wir sind hier, um die Untersuchung zu leiten…“ unterbrach Kummer meinen beeindruckenden Monolog. „Untersuchung? Was für eine Untersuchung?“ fragte ich. „Hoffnung liegt im Sterben, und wir möchten gerne herausfinden warum.“ Ich war sprachlos. Zumindest einen Moment lang. „Äh, und was hat das mit mir zu tun? Ich meine, Hoffnung ist unsterblich, denn wer sonst würde unsere Träume gießen und umtopfen, wenn sie zu groß für ihre Schalen werden? “  „ Na dann schau dich doch mal um...“ sagte Melancholie und zeigte mit ihrem Finger auf die verdorrten Überbleibsel in den Töpfen. „Ja Moment mal, soll ich etwa meiner Hoffnung Hüter sein?? Sie ist viel älter und größer als ich, soll ich mich da etwa in ihre Belange einmischen??“  „Ja, denn nur Du bist für deine Hoffnung und ihr Wohlergehen verantwortlich, und wenn sie stirbt, stirbt auch die Zukunft.“ Irritiert sah ich Liebe an, die sich hinter meinem Rücken angeschlichen hatte.






„Hm? Was hast Du denn jetzt damit zu tun?“ fragte ich sie. „Na komm, ich helf‘ dir mal auf die Sprünge“ sagte Erinnerung und massierte mir dabei sanft die Schläfen. Dabei mußte ich an den Tag mit Dolores am Meer denken. Wir saßen an der Steilküste und sahen schweigend den Wellen zu, die unermüdlich an den Strand rollten. Unsere Fingerspitzen berührten sich flüchtig, und Dolores fragte: „Liebst Du mich?“ Ich nahm ihren Kopf in meine Hände. Dabei fiel eine ihrer Haarsträhnen auf meine Haut, und die Berührung erinnerte mich an den Windhauch, der es schaffte meinen ersten selbstgebauten Drachen steigen zu lassen. Unten am Strand verließ ein Einsiedlerkrebs seine Behausung. Sie war ihm zu klein geworden. Dolores und ich saßen noch eine Weile schweigend am Meer. Dann gingen wir. Das war das letzte Mal, daß ich etwas von ihr gehört hatte. 



„Na, verstehst Du jetzt?“ fragte Erinnerung mich, während sie weiter über meine Schläfen fuhr. „Ja“ erwiderte ich. „Ihr habt ja recht, ich habe Hoffnung das letzte Mal am Sonntag gesehen, als ich sie ins Sterbehospiz brachte… Im Lichtermeer des Hafens rückte ich ihr das Kopfkissen zurecht.“ „Ha, jetzt fängst Du aber an pathetisch zu werden“, warf Traurigkeit ein.



„Ja, das stimmt, aber versetzt euch mal in meine Situation, ihr steht, sitzt, lungert um mich herum, wie ein Geschworenengericht, das nur darauf wartet, mich bloßzustellen, um dann hämisch mit den Fingern auf mich zu zeigen um mir meine Schwächen aufzuzeigen. Ich will das nicht!!“ Behutsam sah Empathie mich an. „Wir sind nicht hier, um dich anzuklagen, wir sind hier, weil wir dich mögen, und wir möchten, daß Du dich uns auslieferst, damit wir dich freigeben können…“ Einen Moment lang herrschte Schweigen, und ich begann die Tragweite der Versammlung zu verstehen. „Du hast sie wiedergesehen, nicht wahr?“  unterbrach Liebe mein Schweigen. „Ja. Ich war auf dem Heimweg, und hielt an der Tankstelle, Sprit und Tabak holen. Beim Rausgehen bemerkte ich einen Wagen, in dem ein sehr verliebtes Paar saß. Ich dachte mir nichts weiter dabei, bis die beiden ausstiegen und sich mir näherten. Ich sah Dolores, sie sah mich, und wir lächelten uns an und gingen in verschiedenen Richtungen weiter.



In diesem Moment wußte ich, das ich damals eine Antwort auf ihre Frage hätte geben sollen.“ „Na jetzt wird’s aber doch arg herzschmerzlich, findest Du nicht auch?“, meinte Traurigkeit. „Ja“, antwortete ich.



 



Ich löschte das Licht, und in der ruhig gewordenen Küche sah ich den Rauchschwaden zu, die sich wie ein schwerer Mantel um den Mond legten.



 



 



 

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: