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„Ich wüsste gerne, was Angela Merkel in ihrer Freizeit zeichnet“

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"Ich bin sauer. Sauer, sauer, sauer, sauer, sauer." So beginnt Marina Weisband, politische Geschäftsführerin im Bundesvorstand der Piratenpartei, ihren Blogeintrag mit dem Titel "Der Politiker und die Politik". Der Text ist eine wütende Gegenrede auf die Kritik, die sie am Mittwoch zu lesen bekam. Grund der Aufregung waren ihre Statusmeldungen auf Twitter, in denen sie zum Beispiel fragte, ab welchem Verhältnis zwischen Frühstück und Medikamenten die Lage eigentlich bedenklich werde. Ihre Antwort ist ein interessanter Beitrag zur Frage, was ein Politiker heute eigentlich ist, soll und darf. Deshalb haben wir mit ihr über dieses Thema gesprochen.

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Illustration: Julia Schubert



jetzt.de: Als Sie Ihren Frühstücks-Tweet abgesandt haben, haben Sie da eigentlich einen Moment lang daran gedacht, dass sich Leute daran stören könnten?
Marina Weisband: Nein. Ich denke nie daran, wer sich an dem stören könnte, was ich twittere. Das gehört zu meinem Lebens- und Politikstil dazu. Ich habe den Tweet genauso verfasst wie jeden anderen auch. Die Leute wissen eigentlich immer, was bei mir privat abgeht, und das bin ich auch gewohnt. Dass sich an diesem Tweet – und an dem anderen, in dem ich geschrieben habe, dass ich kurz aus der Bundestagsdebatte weggezappt habe – dass sich also daran solche Kritik entsponnen hat und mir parteischädigendes Verhalten vorgeworfen wurde, das hat mich ziemlich überrollt und überrascht.

War es das erste Mal, dass Kritik an Ihrem Kommunikationsverhalten aufkam?
Es gab schon immer Unverständnis. Das war mir aber von Anfang an klar, weil dieser Stil von mir bewusst gewählt ist. Es ist kein Zufall, dass ich sehr privat twittere. Ich wurde mal von einer Journalistin gefragt, wie es sich denn mit meinem Amt vertrage, dass ich bei Youtube ein Video habe, wo ich unendlich viele Elefanten zeichne. Wie soll sich das schon vertragen? Keine Ahnung! Ich wüsste auch gerne, was Angela Merkel in ihrer Freizeit zeichnet. Mein Hauptanliegen bei allem, was ich mache, ist es zu zeigen, dass Politiker menschlicher sein können und müssen. Dass das geht heutzutage, weil ich nicht nur im Fernsehen auftrete, sondern man live bei allem dabei sein kann, was ich mache.

Es ist also nicht die Kritik am Inhalt Ihres Tweets, die Sie stört, sondern die Tatsache, dass manche es für unangemessen halten, dass Sie überhaupt Privates von sich preisgeben, obwohl Sie als politische Geschäftsführerin in der Öffentlichkeit stehen?
Richtig. Andererseits muss ich auch sagen, dass 95 Prozent der Kommentare positiv waren und gesagt haben: Danke, mach weiter so, Berufspolitiker haben wir genug. Ein paar Leute haben sogar geschrieben, sie würden wegen dieses Blogeintrags jetzt die Piraten wählen.

Sie haben also einen Nerv getroffen?
Zumindest machen mich solche Kommentare sehr optimistisch. Denn ich finde, wir müssen einen neuen Politikstil schaffen, der auch diese Politiker-Verdrossenen wieder einbindet. Ich will im Prinzip, dass Menschen im Parlament von Menschen vertreten werden. Das ist für mich das Wesen der Demokratie.

Und deswegen müssen Politiker mehr von ihrem Privatleben preisgeben?
Müssen auf gar keinen Fall. Privatleben ist und bleibt privat, wenn sie es wollen. Alles, was ich preisgebe, gebe ich ja freiwillig preis, mit dem vollen Bewusstsein, dass es sich um mein Privatleben handelt und ich dafür angegriffen werden kann. Aber ich gebe es preis, weil ich zeigen will, dass ich ein Mensch bin, und zwar ein vollwertiger Mensch, mit Stärken und Schwächen und Lernbereitschaft. Diese Lernbereitschaft finde ich sehr zentral. Dazu gehört auch, dass ich die Möglichkeit habe, meine Meinung zu ändern und ganz offen und transparent zu sagen, dass ich sie geändert habe, und zwar aus diesen und jenen Gründen. Ich finde es wichtig, dass Politiker aufhören, sich zu verkleiden. Ich möchte sehen, das Politiker das tragen, worin sie sich wohl fühlen, und nicht das, was die Leute erwarten. Weil ich keine Erwartungshülsen im Parlament sitzen sehen will. Ein Politiker sollte auch frei reden, frei Schnauze. Das, was er wirklich im Kopf hat und nicht das, was gut und geschliffen klingt. Das kann von mir aus Fehler enthalten. Nur dafür muss die Gesellschaft lernen, Fehler zu tolerieren. Damit der Mensch, der da Politik macht, ehrlicher ist.

Ist das nicht utopisch? Der Politikbetrieb in Berlin wird meistens als eine sehr unbarmherzige Welt beschrieben.
Ich weiß es nicht, ob das eine Utopie ist. Aber ich probiere es aus. Es gibt im Prinzip drei Möglichkeiten: Entweder ich scheitere und steige aus, oder ich scheitere insofern, als dass ich meine eigenen Ideale verrate, oder ich schaffe es und ziehe es durch. Ich habe schon gesagt: Wenn ich jemals in den Bundestag schaffen sollte, dann ziehe ich dahin nur ein Hemd von Helmut Kohl an. Ich möchte wieder Humor in die Politik bringen.

Sagten Sie Humor?
Ja. Im Moment krankt sie daran, dass sie sich selbst zu ernst nimmt. Dass sie in ihren Schemata und Mustern verhaftet ist, sich nicht mehr daraus befreien kann und deshalb den Kontakt zum Menschen und zum Menschlichen verloren hat. Und damit übrigens auch zu ihrem eigentlichen Bestimmungspunkt, nämlich dafür zu sorgen, dass wir als Gesellschaft zusammenleben können.

Klingt nach „Näher am Menschen“. Das haben schon viele Politiker mit Homestories vorgemacht – und wurden durchschaut.
Ich meine ja auch nicht diese demonstrative Bürgernähe, die so aussieht, dass ein Politiker in einem Anzug in irgendeinem sonnendurchfluteten Park steht und ein Kind küsst. Sondern einfach zu zeigen, dass der Politiker selbst ein Bürger ist. Bürgernäher geht es gar nicht.

Die Stärken und Schwächen eines Politikers zu kennen, ist ja durchaus eine legitime Forderung. Aber warum reicht es Ihrer Meinung nach nicht, wenn die Bürger einen Politiker in seiner Funktion als Politiker kennen? Warum brauchen sie Informationen über ihn als Privatmann und seine Frühstücksgewohnheiten?
Die braucht man nicht. Ich twittere aber auch nicht in meiner Funktion als Politiker. Auf meinem Account steht zwar „Politische Geschäftsführerin der Piratenpartei“, weil ich das nun mal bin. Aber das heißt nicht, dass ich in dieser Funktion twittere. Es gibt einen offiziellen Piratenpartei-Account. Der andere ist mein Account als Mensch. Ich betone Mensch, nicht Privatperson. Denn es ist ja nicht nur privat. Ich trenne das nicht. Ich bin Mensch, Künstlerin, ich singe und mache Politik. Das ist gleichwertig. Manche interessiert, was ich singe oder male, manche interessiert, welche Politik ich mache. Ich erwarte nicht, dass alle Politiker das in der Form machen. Aber ich versuche, den Leuten ein bisschen die Augen zu öffnen und vielleicht ein bisschen zu provozieren und den Politiker-Stil zu verändern.

Der Politikberater und ehemalige Regierungssprecher Thomas Steg hat in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel Folgendes geschrieben: „Die eigentliche Herausforderung besteht in der unverzichtbaren Professionalisierung der Partei, die bundesweit antreten will. Dazu braucht es Strukturen und Personen, mithin Entwicklungen und Entscheidungen, die dem Selbstverständnis der Partei tendenziell widersprechen.“ Im Klartext heißt das doch, dass sich neue Politiker dem System Politik anpassen müssen, um darin zu bestehen – und nicht umgekehrt.
Das macht ja überhaupt keinen Sinn. Wir haben doch schon die Grünen. Die Grünen haben Großartiges gerissen und viel verändert – und dann hat die Politik sie verändert, und das war’s. Ich finde die immer noch gut, aber wir brauchen die nicht noch mal. Wenn wir also die Politik nicht verändern, wozu sind wir dann da? Wir sind kein Selbstzweck. Ich habe heute gelesen: „Frau Weisband, mit Ihrem Stil kommen die Piraten ja nie über 20 Prozent!“ Ich will im Moment überhaupt nicht auf 20 Prozent! Ich will verändern! Wenn wir uns jetzt verändern, um noch mehr Wählerstimmen zu bekommen, handeln wir hoch paradox und genau wie die anderen Parteien, die sich anpassen, um mehr Stimmen zu bekommen. Ich werde mir nicht den Arsch aufreißen und mich verbiegen, um mehr Wähler zu kriegen.


Text: christian-helten - Foto: Reuters

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