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Der Traum droht zu platzen

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Ahmad Moez war auf dem Weg zu einer Vernissage, als ein paar Hundert Meter weiter die Hölle losbrach. Ahmad stieg aus der U-Bahn, es war der 9. Oktober, die Nacht war klar und ruhig. Zur Galerie war es nur ein kurzer Fußmarsch. Ahmad ist 23, studiert Medizin, liebt Kunst. Er lief den Platz entlang, der vor fast neun Monaten zum Symbol für die ägyptische Revolution wurde und passenderweise schon vorher den richtigen Namen trug: Tahrir, also Befreiungsplatz. Hier hatte Ahmad vom ersten Abend an mitdemonstriert, mal euphorisch, mal zweifelnd, schließlich unendlich stolz. Hier war er zwei Monate nach dem Sturz Mubaraks verhaftet worden, als er Misshandlungen von Demonstranten mit seinem Handy filmte.  

In einem Geschäft lief ein Fernseher. Ahmad erzählt, dass die Bilder schrecklich waren, die er am 9. Oktober durch die Scheibe sah: Vor dem Fernsehgebäude in Kairo gingen Menschen aufeinander los, Soldaten schossen und fuhren mit Armeewägen in die Menge. Maspiro, das Fernsehgebäude, lag ein paar Hundert Meter nilabwärts. „Das müssen ältere Bilder sein“, dachte Ahmad. Am Tahrirplatz war alles ruhig. 

Die Vernissage hatte schon begonnen, als Ahmad ankam. Der Künstler stellte seine Werke vor, die Menge hörte zu, nur eine junge Frau tippte ständig auf ihrem Handy. Dann ergriff sie das Wort und erzählte die Nachrichten: Ein Demonstrationszug von Kopten, der christlichen Minderheit in Ägypten, die etwa zehn Prozent der Bevölkerung stellt, hatte nach Angaben der Staatsmedien die Armee angegriffen und drei Soldaten getötet. Eine gewaltige Straßenschlacht war im Gange. Das Staatsfernsehen rief alle Muslime dazu auf, die Armee zu verteidigen. Die Ausstellung interessierte keinen mehr. 

Ein paar Tage später ist immer noch nicht geklärt, was sich am Maspiro eigentlich abgespielte. Klar ist nur: Es gab 26 Tote und mehr als 350 Verletzte. Klar ist auch, dass ein großer Demonstrationszug aus dem Christenviertel Shubra vor das Fernsehgebäude zog. Ob aber die Soldaten sofort zu schießen begannen, wie die Kopten behaupten, ob die Demonstranten zuerst Steine warfen, wie das Militär behauptet, und wer diese Männer waren, die plötzlich auf alles einschlugen, was sich bewegte – das alles weiß man nicht. Und viele im In- und Ausland zweifeln nun, ob die Demokratiebewegung in Ägypten überhaupt noch eine Chance hat. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wer war schuld? Eine Aufnahme vom 9. Oktober in Kairo.

Ahmad Moez ging an diesem Abend sofort nach Hause. Er blieb die ganze Nacht wach, sah sich Videos im Internet an, suchte Augenzeugenberichte auf Blogs. Was er von dem Vorfall halten soll, weiß er bis heute nicht. „Ich weiß nur: Ich kann niemandem mehr trauen. Den Medien nicht, der Armeeführung nicht. Und ich bin mir auch nicht mehr sicher, ob die Aktivisten die Wahrheit sagen.“ Für Waleed Shamad hingegen ist die Sache klar: „Das Militär spielt genau das selbe dreckige Spiel, das Mubarak gespielt hat. Weil sie eine Demokratie verhindern wollen.“ Waleed ist einer jener jungen Erwachsenen, deren Wut über die eigene Perspektivlosigkeit den Nahen Osten ins Wanken brachte: Er ist 28, Akademiker und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Er lebt bei seinen Eltern, die er am 9. Oktober zum Bahnhof bringt. Als er auf dem Heimweg in einem Straßenrestaurant die Bilder von den Unruhen sieht, läuft er zum Fernsehgebäude – oder zumindest bis zu den Straßensperren, mit denen die Armee verhindern will, dass noch mehr Menschen zu den Protestierenden stoßen. „Und plötzlich brüllt mich ein Mann in Zivil an“, erzählt Waleed. „Ich solle mit ihm die Demonstranten verprügeln. Er hatte Holzlatten dabei. Ich meine: Wer macht sowas? Und hat auch noch zufällig Holzlatten dabei? Das stinkt doch!“ 

Tatsächlich lief es unter Mubarak oft ähnlich: Anschläge, wie etwa der im Januar auf einen christlichen Neujahrsgottesdienst in Alexandria, schürten Unsicherheit im Lande. Und auch der Westen wurde durch solche Vorfälle daran erinnert, dass scheinbar nur ein starker Mann das bevölkerungsreichste Land im Nahen Osten unter Kontrolle halten und sich deshalb nicht immer um Menschenrechte kümmern kann. Inzwischen ist so gut wie bewiesen, dass der Anschlag von Alexandria das Werk von Mubaraks Geheimdienst war. 

Als Mubarak im Februar Geschichte wurde, als das Volk „Hand in Hand“ mit der Armee den Diktator vertrieb, wie es auf der Straße hieß, war der Jubel groß. „Ich hatte das große Glück, dass ich dieses enorme Ereignis miterleben durfte. Und fühle mich gesegnet, dass ich mitgeholfen habe, dass ich ein Teil des Tahrirplatz-Volkes war“, schrieb Ahmad Moez vor drei Monaten in einer Mail. Waleed wird nicht weniger pathetisch, wenn er an die Zeit zurück denkt: „Das Leben war so dunkel“, erinnert sich Waleed, „dann kam ein Traum in diese Dunkelheit.“  Dieser Traum droht zu platzen. Dass die Generäle ein ähnliches Verständnis von Demokratie haben wie das alte Regime, wurde schnell klar. Das Militär ist ein Staat im Staate, hat viele Fabriken, unterhält Hotelkomplexe und tut alles, um seine Position zu bewahren. Deshalb ist etwa die Notstandsgesetzgebung noch immer in Kraft, die die Verfassung aushebelt. Das ermöglicht der Armeeführung, unbequeme Zivilisten vor Militärgerichten zu verurteilen. Die Verhandlungen dauern oft keine fünf Minuten, Gruppen von über 100 Angeklagten werden auf einmal abgeurteilt, Anwälte gibt es nicht. Dafür umso mehr Verfahren: 12 000 Ägypter wurden so seit Mubaraks Rücktritt ins Gefängnis geschickt. Weil sie das Militär kritisiert haben, an nicht genehmigten Demonstrationen teilgenommen oder gestreikt haben. 

„Die Unterdrückung durch Militärgerichte ist unserer Hauptproblem“, sagt Ahmad, „die Menschen müssen erst lernen, frei zu sein – aber wie sollen sie das unter diesen Umständen?“ Von der Politik hält er nicht viel. In sechs Wochen sind Parlamentswahlen, etwa 120 Parteien bewerben sich, die der Tahrirplatz-Aktivisten sind klein und schwach. „Von den neuen Politikern kümmert sich keiner um das Volk und um die Sache. Denen geht es um ihr eigenes Wohl.“ Trotzdem will Ahmad nicht nur pessimistisch sein. „Es hat sich etwas verändert seit der Revolution. Die Menschen beginnen zu begreifen, dass sie Rechte haben. Dieser Prozess kann noch Jahre dauern, aber: Ein Wandel im Bewusstsein der Menschen ist viel wichtiger als Parteien oder Verfassungsänderungen.“ 

Waleed Shamad sagt, er sei weder pessimistisch noch optimistisch. Er sei vor allem wütend. Noch wütender als damals, als in Tunesien die Revolution losbrach und sich in Ägypten nichts bewegte. Damals gab er einem britischen Journalisten ein Interview, der Guardian druckte in der Geschichte seinen vollen Namen. „Freunde waren besorgt, dass mich der Geheimdienst holt.“ Und heute? „Heute dreht die Armee Tag für Tag die Errungenschaften der Revolution ein wenig zurück.“ Aktivisten würden als vom Ausland bezahlte Agenten diskreditiert, das Volk eingeschüchtert. Und auch, wenn Kritiker schnell hinter Gittern landen, bittet Waleed: „Schreib’ trotzdem meinen Namen.“ Und dann sagt er, halb im Spaß, halb im Ernst, dass er jetzt eigentlich lieber ein Fernsehinterview gegeben hätte. Weil dann hätte man seine Mimik sehen können. „Und meine Augen. Die sind rot vor Wut.“

Text: moritz-baumstieger - Foto: afp

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