Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

die letzte hand am jenga-turm war meine

Text: noplacespecial

es ist eine altbekannte situation. nur das gefühl ist anders.



wie eine seilbahngondel wippt der einkaufskorb in meiner hand an den regalen vorbei. er legt keine höhenmeter zurück, aber die gemächlichkeit, mit der er seinem ziel entgegenschaukelt, dürfte einigen minifliegen im feldsalat durchaus das mindestmaß an urlaubseligkeit innerhalb ihres kurzen lebens bereiten. nur eine station noch, die es zu sehen gibt. die schwierigste. an tragik kaum zu überbieten und der titel des theaterstücks ist schon lange druckfertig „süßigkeitenregal. ein dilemma“.



da ist es wieder. das gefühl der hilflosigkeit. kleinkinderarme, die sich nach oben strecken. auswahl essen seele auf. gummitiere? lakritz? kaubonbon? konfektparade? im rücken lauert das keksregal und der kapitulationsteufel auf der rechten schulter reibt sich schon die hände, doch der engel der sozialen einsamkeit auf der linken setzt ganz auf den trumpf von schokolade. marke egal, scheiß auf sonderangebote. ach, wie schön war die welt, als man nur die kleine blechdose in form eines lastwagens kannte, die mutti manchmal neben die schuhe stellte. und es spielte keine rolle, wie hoch der laderaum mit haribo, toffifee und joghurtgums gefüllt war, der blick ins geheimfach geriet zur fahrt ins jammertal, wenn dort die leere zu gähnen ansetzte.



es wird nie so sein wie früher. das  gefühl kennst du schon.



als ich mir über mehrtägige ernährungsideen noch keine platte zu machen brauchte, sondern nahrung aus heiterem himmel durch mutti oder die zahnfee, die mich testen wollte, plötzlich auf dem tisch landete, waren vorsätze für mich das, was als elendvoller teller kürbissuppe am esstisch vor mir hindampfte. eine halbe stunde trotziges durchhaltevermögen für eine abgekühlte pampe, die dann in der klospülung aufging. manche dinge blieben fern meiner kognitiven kapazitäten. sie waren, wie sie waren. dein schaukelpferd war schneller als meins und nur du durftest die regeln für stein-schere-papier bestimmen. der tod lag als leichter fliegenflaum im staub der fensterbank. arbeit war etwas für erwachsene. mit dir konnte ich auf silberfischjagd gehen ohne mir gedanken über die ausrüstung zu machen. du hattest alles durchdacht, wir würden sie mit taschenlampen aus ihren höhlen locken, wir dürften dabei nur nicht wackeln. von deinem opa hattest du eine stoppuhr bekommen, mit der wir unser lungenvolumen auf ausdauer trainierten. dass man weniger wackelt, wenn man den atem anhält, war natürlich auf deinem mist gewachsen. ich durfte meist nur assistieren, wenn es um pläne, wahrheiten und den weg dahin über steile thesen ging. der beste „genau!“-sager der welt, das war mein adelstitel und ich trug ihn voller zufriedenheit und stolz.





es ist nicht die zeit, die vergeht. es sind die menschen.



es dauerte bis in die pubertät, bis ich stellung bezog. angefangen hat es, als ich auf die idee kam den gesundheitshinweis zur zigarettenwerbung im kinovorspann nicht nur für eine gute sache zu befinden, sondern ihn als handlungskonsequenz auch laut zu beklatschen. wenn alle in die gleiche richtung schauen wie man selbst und die dunkelheit für ausreichend anonymität sorgt, kann man sich schon mal was trauen. leider blieb ich mit meiner pseudopolitischen kundgabe allein. gurupotential gleich null. mein ritual reichte für zehn bis zwölf besuche, dann hatte ich genug von den blauen flecken und kratzwunden, die sich durch die vetorechtsbemühungen meiner sitznachbarn auf meinen handgelenken abzeichneten. manch einer mag eine eintrittskarte aufgehoben haben, aber darüber weiß ich nichts genaues. die mädchen durften nun umarmt werden, wenn man sich verabschiedete. ich hatte viele warums in meinem kopf, aber fragenstellen, das machten nur lehrer. schule lief schneller als man es im physikunterricht träumte. fußballbilder wurden freakshow, pausenbrote wurden peinlichkeit, kakao bald kamikaze. man hatte nichts zum tauschen. abizeit lief unter dem motto „und alles, was ich kriegte, war dieses hässliche t-shirt“. es existieren keine freundschaften mehr aus dieser zeit. eine austrittskarte habe ich nie bekommen.



es kommt schon irgendwann die zukunft. sagte mal die gegenwart und zog dann aus.



die miete ist schon mal die halbe miete. in jedem stadtteil mal gewohnt haben, das kann eine aufgabe sein, wenn man keine lust aufs studieren hat. ich bemerkte den wandel der lebensmaximen, wollte man früher noch überall dazugehören, so durfte man es jetzt auf keinen fall wollen. und wenn es doch passierte, war es hoffentlich eine menage a trois, die man aber längst zu beenden gedachte, sobald man davon erzählte. angeben gehört dazu, ausgeben auch manchmal, nur zugeben, dass man sich geirrt hat, das kommt erst mit mitte zwanzig, davor nennt man es selbstfindungsprozess und der kommt gewöhnlich zusammen mit dem bierklau beim socialnetworkjunkie aus dem partyhaus. es gibt schließlich nichts, was soviel zeit in anspruch nimmt wie das scheitern und das überlegen von ausreden. ein abschluss, ein job, etwas geld und das leben ist gemacht wie ein bett in einem erzkonservativen nonnenkloster. schicksal ist ein schönes wort und ein schlechtes argument. die einzige möglichkeit, drüber nachzudenken, sind die radstrecken zwischen zwei discotheken, wenn das gras auf der anderen party grüner oder weniger gestreckt ist. zeit wird relativ. relativ egal, wenn man liiert ist, die einzigen, die zählen sind singles. menschen, wie ich und du, die ein talent dafür hat, mir aus dem weg zu gehen. aus anfang wird mitte wird ende, und glücklicherweise kann ich noch ne zwanzig dahintersetzen. ich habe das gefühl, so viel gesagt zu haben, dass ich es leid bin, immer wieder die gleichen themen durchzukauen, man möchte auch mal einfach nur trinken. und wenn es schokoladenpudding ist, dann bitte mit jemandem, der total auf haut steht, das wäre dann abartig komplementär.



heute zieht der regen durchs land, ich werde nicht mehr einkaufen gehen. die schokolade ist angebrochen, im fenster immer noch wetter und die kreuzung denkt über feierabend nach. während ich mir das gelächter in den pfützen anschaue, fällt mir ein, dass ich immer noch nicht damit vorangekommen bin, mir die richtige emotion dafür auszudenken, wenn wieder sirenen durch meine straßen heulen. morgen ist sonntag. da finde ich sicher etwas zeit dafür.






Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: