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Es ist Krieg im Netz

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In der Nacht auf Dienstag traf eine Bombe das Haus in Warschau, in dem der 14 Jahre alte Simha Roten lebte. Seine Großeltern, seine Tante und sein Bruder kamen dabei ums Leben. Er überlebte, aber ein Holzsplitter hatte sich durch seinen Nacken in seine Luftröhre gebohrt. Er zog ihn selbst heraus. 

Natürlich haben sich diese Ereignisse nicht wirklich gestern zugetragen, sondern vor 72 Jahren, am 26. September 1939, als im zweiten Weltkrieg deutsche Panzer durch Polen fuhren und deutsche Flieger Warschau bombardierten. Trotzdem standen sie gestern auf Twitter. Im Präsens, als wäre Simhas Geschichte so aktuell wie das meiste, das auf Twitter zu lesen ist. Schließlich ist die Microblogging-Seite wie kaum ein anderes Tool im Netz auf das Jetzt fokussiert, auf kurze Schnipsel unserer Gegenwart, Dinge, die wir jetzt im Moment tun, lesen, fühlen oder sehen. Aber Simhas Geschichte stand auch nicht in den Tweets eines gewöhnlichen Nutzers – sondern aus denen von Alwyn Collinson.

Alwyn ist 23 Jahre alt und hat in Oxford Geschichte studiert. Am 31. August setzte er sich vor seinen Computer und tippte den ersten Tweet in die Eingabemaske des neuen Accounts mit dem Namen @RealTimWWII:



Alwyn begann an diesem Tag, 72 Jahre nachdem der zweite Weltkrieg begonnen hatte, dessen Entwicklung zu twittern. Und zwar so, als ob sie gerade stattfinden würde. Es gibt Einträge wie den über Simha, persönliche Geschichten und Schicksale von Menschen, die den Krieg damals erlebten. Und es gibt Einträge eines Erzählers, sie klingen, als würde jemand das Nachrichtengeschehen verfolgen und twittern, was er dort erfährt: dass ein deutsches Schlachtschiff das Feuer eröffnet, dass Churchill sich über die Erfolge im U-Boot-Krieg äußert, dass Göring in einer Rede einen Sieg der deutschen Truppen über Polens Armee feiert. Mit seinem Projekt wolle er den zweiten Weltkrieg erfahrbar machen, auf eine andere Art, als Geschichtsbücher und Fernsehdokumentationen das tun, sagt Alwyn: „Ich hoffe, dass die Leute dadurch verstehen können, wie die Leute den Krieg damals wahrgenommen haben – ohne den Vorteil des Wissens, wie alles weiterging. Wir wissen heute, wie der Krieg sich zugetragen hat und wie er ausgegangen ist. Die Leute, die ihn durchleben mussten, nicht. Über die Schnipsel, die ich über Twitter hinausschicke, lässt sich diese Situation ein bisschen besser nachempfinden.“

Die Ereignisse sucht Alwyn sich aus verschiedenen Quellen zusammen: aus Zeitungsartikeln, Geschichts- und Tagebüchern und von verschiedenen Webseiten. „Ziemlich praktisch sind Online-Timelines des Zweiten Weltkriegs. Ich kann sie relativ einfach durchsuchen und mir einen guten Überblick über die Ereignisse des jeweiligen Tages geben lassen. Dann fülle ich die Lücken mit Informationen aus Büchern und so weiter.“ Ab und an melden sich auch Leute mit Informationen bei ihm, vor allem Experten, die ihm von Dingen berichten, „die man in normalen Büchern nie finden würde“. Er hofft, in Zukunft auch noch mehr individuelle Geschichten aus seiner über 8000 Leser starken Followerschaft zugeschickt zu bekommen.

Alwyns Projekt ist nicht aus einer Frustration heraus entstanden, etwa weil ihm Geschichtsbücher nicht lebendig genug waren. „Mein Twitter-Feed kann sich nicht mit der Lektüre eines richtig guten Geschichtswerks messen“, sagt er. „Aber ich glaube, dass solche Bücher für viele Leute weit entfernt und undurchdringlich sind. Furchteinflößend.  Twitter hingegen ist ein Medium, das wenig vom Leser fordert. Und es macht das Verstreichen der Zeit erfahrbar – das ist auch ziemlich wichtig, finde ich.“

Apropos verstreichende Zeit: Der Zweite Weltkrieg dauerte sechs Jahre. Wird Alwyn also bis 2017 jeden Tag twittern? „Ich hoffe es“, sagt er. Ein Jahr wolle er auf jeden Fall durchhalten, „bis zur deutschen Einnahme Frankreichs, und vielleicht sogar noch bis zur Invasion in Russland.“ Irgendwann, da ist er sich sicher, würde er aber Hilfe brauchen Spätestens, wenn der Krieg sich auf die ganze Welt ausweitet.

Text: christian-helten - Foto: ddp

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