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Was muss ich noch können?

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Gleich nach der Schule bin ich nach Wien zum Schloss Schönbrunn gefahren. Dort gibt es ein kleines Theater, und in diesem Thea­ter fand das Vorsprechen für das Max Reinhardt Seminar statt. Das ist eine bekannte Schauspielschule, an der nicht jeder genommen wird, an der sich aber jeder bewerben darf. Man muss Szenen aus vier Theaterstücken einüben und darf dann der Jury vorspielen.

Ich war nie zuvor auf einer Theaterbühne gestanden. In die Theatergruppe meiner Schule hatte ich mich nie getraut – aus Schüchternheit. Als Ausrede mir selbst gegenüber nannte ich immer die Probezeiten. Die lagen doof, gleich nach der sechsten Stunde, ich hätte danach zwei Stunden auf den nächsten Bus warten müssen. Aber weil ich ganz gut darin war, Menschen oder Dialekte oder Macken nachzuahmen, sagte ich mir immer wieder: Du könntest auch schauspielen können. Da schlummert etwas in dir. Du musst nur auf Leute treffen, die dein Talent erkennen und deinen Willen. Mit dieser romantischen Idee bin ich nach Wien gefahren.
 
Ich spielte eine Szene aus Georg Büchners Woyzeck. Barfuß marschierte ich auf die Bühne und war gleich geblendet von den brutal hellen Scheinwerfern, die die Bühne und mich ausleuchteten. Ich hatte kein Gefühl für den riesigen Raum. Meine Bewegungen, die mir zu Hause vor dem Spiegel noch sicher vorkamen, klemmten. Ich hatte Schwierigkeiten, mich an den Text zu erinnern. Als ich in einer zweiten Szene einen Monolog aus Max Frischs Andorra spielte, vergaß ich den Text komplett – und das war es dann. Zwei aus der zwölfköpfigen Jury, in der unter anderen Klaus Maria Brandauer saß, lachten vernehmlich. Einer sagte „Danke“, und in dem Moment wusste ich, dass ich nie Schauspieler werden würde. Alles, was ich im Gepäck gehabt hatte, war die Hoffnung, dass die richtigen Menschen schon das Richtige in mir sehen würden. Ich war so vermessen zu glauben, dass allein mein Mut, mein vermeintliches Einfühlungsvermögen in die Rollen, meine Entschlossenheit, also eine Ansammlung von ein paar zusammengekehrten Soft Skills, sogenannten Schlüsselkompetenzen, etwas auslösen können. Es ging nicht.
Viele Jahrzehnte waren Schulen Auswendiglernanstalten. Die Lehrer achteten darauf, dass die Schüler ganz viel Wissen in ihren Köpfen stapelten. Nur wer die Dinge auswendig konnte, galt als gut. Deshalb trifft man auch heute noch oft auf Erwachsene, die ganze Passagen aus Goethes Faust oder Schillers Glocke auswendig aufsagen können. Das hat sich geändert. Die Gesellschaft und die Arbeit sind komplexer geworden, sagen die Bildungsforscher, deshalb lernt man an den Schulen jetzt ganz viel Teamarbeit und Präsentation, man lernt die Soft Skills. Früher mussten nur Unternehmensberater mit Powerpoint präsentieren, jetzt müssen Fünftklässler beweisen, dass sie das Präsentationsprogramm beherrschen. Kompetenzen spielen nun eine sehr große Rolle in der Schule, das schiere Wissen ist nicht mehr ganz so wichtig. Woher das kommt? Unter anderem von der OECD.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Die Bildungsforscher von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Paris machen zum Beispiel die PISA-Lerntests an den Schulen, sie schauen sich aber auch das moderne Arbeitsleben an. Das zerfällt immer mehr in einzelne Projekte. Ständig muss man sich neu orientieren, mit anderen zusammenarbeiten, muss nachsehen, ob man noch genug kann, ob man nicht den Job wechseln sollte. Um sich „den anspruchsvollen Herausforderungen der heutigen Welt stellen zu können“, so haben es die Forscher auf­geschrieben, benötige der Mensch „zahlreiche Kompetenzen“. Eine Kompetenz ist laut OECD „mehr als nur Wissen“: Wer sich in der modernen Arbeitswelt anständig bewegen will, muss zum Beispiel fähig sein, mit Computern und mit Sprache umzugehen. Er muss fähig sein, sich in kunterbunten Gruppen, in internationalen Teams, in verschiedenen Kontexten zu bewegen. (Er muss sich deshalb gut in andere Menschen einfühlen können.) Und außerdem, das sei eine weitere wichtige Kompetenz, muss er sein Leben selbstständig gestalten können, sich Dinge vornehmen und die auch umsetzen.

Die Schulen haben auf diese Ansprüche reagiert, und auch an den Hochschulen gibt es immer mehr Kurse, in denen zum Beispiel rhetorische Fähigkeiten vermittelt werden, die man sich dann in den Lebenslauf schreiben kann. Das ist ein Wandel, den manche entsetzlich finden. Der Lehrer und Didaktiker Hans Peter Klein zum Beispiel hat Angst, dass bald nur noch lächelnde, aber ahnungslose Menschen die Schule verlassen. Sich auf die Bühne zu trauen ist eben das eine. Die Frage ist, ob man dort etwas erzählen kann.
Manche Personalchefs sind die Diskussion um den Wert dieser Kompetenzen bereits leid. Sie sprechen nicht mehr von Soft Skills, wenn man sie fragt, was man sonst noch können soll. Sie sprechen von Lebenserfahrung. Sie wollen Menschen sehen, die auch mal gescheitert sind, die sich irgendwie der Welt da draußen ausgesetzt haben. Wenn sie das wirklich suchen, dann suchen sie im Grunde Philosophen. Die Philosophie ist die Suche nach Weisheit. Und was ist Weisheit? Sie hat mit einer besonderen Form von Wissen zu tun. Der französische Philo­soph André Comte-Sponville schreibt im Buch Glück ist das Ziel, Philosophie der Weg: „Es handelt sich um ein ganz besonderes Wissen, das keine Wissenschaft verfügbar macht, kein Beweis belegt, kein Laboratorium testet oder attestiert, kein Diplom bescheinigt. Es geht hier nämlich nicht um Theorie, sondern um Praxis. Nicht um Beweis, sondern um Bewährung. (…) Nicht um Wissenschaft, sondern um Leben.“

Wer sein ganzes Leben nur brav tut, was man von ihm verlangt, der wird, sagt der französische Philosoph, nicht weise. Fürs Weisewerden müsse man Dinge ausprobieren, man müsse dafür leben. Weisheit, so wie Comte-Sponville sie sieht, muss etwas ziemlich Saftiges sein. Wer sie sucht, sucht nicht nur Wissen, sondern auch die Liebe, das Glück, die Zufriedenheit. Man kann sie nicht lernen, man muss sie erleben. Meine Pleite im Theater von Schloss Schönbrunn war vorhersehbar. Aber sie war in Ordnung, weil sie mir klargemacht hat, dass es mit Kompetenzen allein nicht getan ist. Die Fahrt, denke ich heute, hat mich bereichert. Vielleicht hat sie mich sogar ein Stück weiser gemacht. Auch wenn ich sie mir nicht in den Lebenslauf schreiben kann.

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