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Dein (vielleicht) bester Freund

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Es ist das früheste Schulwissen überhaupt und eines, das man nicht vergisst: wo man hockt. Am ersten Tag im ersten Jahr wird es entschieden, und fortan wird der Platz im Klassenzimmer alles sein, die Bühne für Erfolge und Niederlagen, der sichere Hafen oder die Vorhölle mit Stuhl. Der Kindergarten hatte keine feste Sitzordnung, und je näher man dem Ende der Schulzeit rückt, desto flüchtiger wird ihre Verbindlichkeit auch wieder, aber in der Zwischenzeit ist sie bisweilen wichtiger und prägender als manche Note und manches strenge Lehrergesicht. Das weiß jeder, der am ersten Tag nach den Sommerferien nicht zur Stelle war, nicht aktiv an den Verteilungskämpfen teilnehmen konnte oder sich, wie in einer Tanzstunde, gezwungen sah, um Banknachbarn zu buhlen. Wer in der Folge dann sogar allein sitzen musste, konnte das noch als Einsamer-Wolf-Taktik verklären. Wer aber neben dem einen anderen Typen zu sitzen kam, der traditio­nell keinen findet, konnte das nicht mehr so gut verklären.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Die topografische Lage ist bei der Sitzverteilung gar nicht so relevant – Hauptsache: nicht in der ersten Reihe, da sitzen schließlich nur die Mädchen mit den Pferden auf dem Sweatshirt. Der Partner, mit dem man die Bank teilt, ist die weitaus wichtigere Wahl. Wohl dem, der früh einen treuen Freund zum Nachbarn hat und sich in dieser ersten WG des Lebens deshalb bald an vertraute Standards gewöhnen kann, allen voran an die beruhigende Gewissheit, dass der andere schon einen Platz frei halten wird, komme was wolle – und sogar im Sitzkreis beim Flaschendrehen auf der Klassenparty.
Viel zu oft aber sind diese ehernen Bankpartnerschaften bedroht, werden von Lehrern mutwillig entzweit, nicht gemeinsam versetzt, oder, noch schlimmer, sie halten den Freund- und Feindschwankungen auf dem Pausenhof nicht stand. Dann sieht man sich gezwungen, einen Neuen zu wählen, mit dem man die sechs längsten Stunden des Tages verbringt, und stellt fest: Ein guter Banknachbar ist schwer zu finden. Insofern ähnelt diese Suche durchaus allen späteren Partnersuchen.

Was den gemeinsam durchzustehenden Lehrplan angeht, so sollten sich die Banknachbarn idealerweise in den Disziplinen ergänzen, ohne jeweils allzu weit auseinanderzuliegen. Meint: Es sollte beim Spicken nicht immer Einbahnverkehr herrschen. Falls doch, muss das einsame Genie irgendwie anderweitig von seinem Nachbarn profitieren, zum Beispiel sich in seinem Statusglanz sonnen können. Derlei aber wird immer Zweck-Nachbarschaft bleiben. Nein, es reicht, wenn der andere beim Test zumindest eine Aufgabe und zwei Vokabeln mehr lösen kann als man selber und im besten Fall die Schwächen so gut kennt, dass er genau die richtigen Stellen zum richtigen Zeitpunkt mit seinem Arm freilegt. Aber zu einer kongenialen Gemeinschaft wird die Zeit mit dem Banknachbarn ohnehin erst, wenn dieser auch den Unterricht der Lebensschule zuverlässig mitmacht. Er sollte hinsichtlich kleiner strafbarer Handlungen ebenso versiert sein wie in Bezug auf die Etikette erster amouröser Erfahrungen, was also bedeutet: Er sollte sehr wichtige Zettelchen zielgenau an ihre Empfängerinnen schleudern können und gleichzeitig loyal genug sein, sie aufzuessen, wenn der Lehrer ihn dabei entdeckt. Er sollte sein Handy bereitwillig zur Verfügung stellen, wenn der Akku des eigenen Telefons leer ist, und weder stumm noch allzu geschwätzig sein, sonst kommt die Bankbesatzung zu schnell in unruhiges Fahrwasser. Er sollte gemütlich genug sein, um mal die ganze Deutsch-Doppelstunde mit dem Kopf wohlig auf verschränkten Armen zu verbringen. Nichts schlimmer als ein Hyperaktiver, der keine Minute ohne Zwicken, Treten und Kippeln erträgt und bei dem man als Nachbar nicht Partner, sondern Versuchsobjekt ist. Er sollte freilich auch allzeit bereit sein, einen schwunghaften Handel unter der Bank zu betreiben, und improvisierten Spielen ebendort immer aufgeschlossen sein. Nicht unwichtig sind zudem ähnliche Ansichten, was die richtige Körperpflege oder den vernünftigen Umgang mit verderblichen Lebens­mitteln angeht. Die Pausenbrote der anderen sind ja in den meisten Fällen dubiose Botschafter eines fremden Matriarchats, in ihrer seltsam grünen Tupperware oder dem fremdartig fettgetränkten Wickelpapier. Keinesfalls möchte man derlei Essen zu lange unter der eigenen Bank verscharrt wissen und irgendwann bei der Suche nach dem Wasserfarbkasten hineingeraten. Auch wäre es auf Dauer ungut, die eigene Brotzeit vor dem anderen stets beschützen zu müssen oder sich fortwährend um Geld anbetteln zu lassen. Nein, der Banknachbar muss nicht der beste Freund sein, aber verlässlich und bekömmlich in seinen Neigungen, ein Dr. Watson mit breiten Schultern und einem untrüglichen Instinkt dafür, wann wer ausgefragt wird. Wenn er dann noch ein bisschen weniger Liebeszettelchen einsammelt als man selbst – perfekt!

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Text: max-scharnigg - Illustration: Joanna Swistowski

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