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Die Alltagsmissionare

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Der IQ eines Schweins ist so hoch wie der eines geistig behinderten Kinds. Das war das erste, was Paul sagte, als ich ihn auf der Grillfeier traf. Es folgte weitere Satzmonster wie: „Manchen Hühnern wird nur der halbe Kopf weggesäbelt“ und „Fische sind sehr sensible Lebewesen.“ Paul ist seit zwei Wochen Vegetarier. Es war dies der Tag, als er „Tiere essen“ von Jonathan Safran Froer zu Ende gelesen hatte. Seitdem dreht sich jede Konversation, an der Paul beteiligt ist um die Rechtmäßigkeit des Fleischverkehrs. Paul ist zum Alltagsmissionar geworden und Fleisch ist sein Konversations-Brandbeschleuniger. Man muss nur „Ich esse kein Fleisch mehr sagen“ und schon prasseln die Sätze von allen Seiten herein. Niemand kann nichts mehr sagen. „Iss halt Bio-Fleisch“, sagte Paul’s Freundin, woraufhin Paul entgegnete, Bio- und Nicht-Bio-Schweine werden im selben Schlachthof gemordet. Ein anorektisch aussehendes Mädchen stimmte Paul sofort zu. Ein anderes sagte: „Professor G. bot im nächsten Semester ja ein Seminar zum Thema „Fleisch“ an.“ Da ginge es aber um Sex, wirft eine dritte ein. Ein Junge mit vielen Mitessern auf der Nase schob sich ein mariniertes Stück Tier in den Mund und schmatzte: „Ich könnte nie auf Fleisch verzichten“, woraufhin das anorektisch aussehende Mädchen angewidert den Kopf verdrehte. Bis auf den Jungen mit den vielen Mitessern auf der Nase konnte kein Mensch mehr auf der Grillfeier gedankenlos sein Fleisch essen. Die einen fühlten sich besser, weil sie schon seit ihrem vierten Lebensjahr nicht mehr zur Gruppe der Karnivoren gehörten, die anderen kauten trotzig bis konsterniert auf ihrem Lamm, Huhn und Schwein herum. Und eine Hundehalterin streichelte hektisch ihren Dackel, als sei es ein Baby, das sie vor einer Menschenfresser-Miliz schützen müsse. Paul ist die dritte Person in meinem Bekanntenkreis, die durch „Tiere essen“ zum Vegetarier geworden ist. Ich habe Angst vor diesem Buch. Ich mag Bücher nicht, die funktionieren, und aus Menschen Alltagsmissionare machen. Ich habe den Verdacht, dass Alltagsmissionare dieselben Prototypen von Mensch sind, die vor 300 Jahren rothaarige Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

„Tiere essen“, sagt Paul, erzählt einem nur das, was man eh schon weiß. Dass wir zuviel Fleisch essen, dass das ungesund ist und dass Sterben halt immer eine unappetitliche Sache ist, weil das Elektrobad, durch das die Hühner geschwenkt werden, nur 95 Prozent der Hühner tötet. Der Rest lebt noch irgendwie weiter, bis die Kopfabsäbelmaschine den Rest erledigt. Aber genau das ist ja das Schlimme! Ich meine nicht das Elektrobad (das ist natürlich auch schlimm), sondern die Tatsache, dass bereits bekannte Fakten wiederholt werden, die plötzlich eine Verhaltensänderung bewirken. „Tiere essen“ ist ein Bestseller, Froer ist zum Millionär geworden, nur weil er alles noch mal prägnant zusammengefasst hat. Andere Alltagsmissionare haben „Endlich Nichtraucher!“ von Allan Carr gelesen, (das ich übrigens schon dreimal angefangen, aber nie zu Ende gelesen habe). Zündet man sich eine Zigarette an, sagen die: „Die brauchst du gar nicht. Bildest du dir nur ein. Wirklich. Ist so.“ Man kann das noch ignorieren, auch wenn man sagen möchte: Hast du nicht die letzten 15 Jahre 20 Zigaretten am Tag geraucht? Im Laufe des Abends wird der zum Nichtraucher bekehrte Alltagsmissionar betrunken. Riecht er in diesem Zustand Rauch, schäumt der ganze Eifer über und er brüllt: „Verdammt, du bildest dir nur ein, dass du süchtig bist! Hör endlich auf!“. Der Vegetarier schreit: „Ist dir bewusst, wie viel Gift in diesem Stück Huhn drinsteckt? Dioxine, Antibiotika alles?“ Dem betrunkenen, Ex-Raucher-Vegetarier möchte man in diesem Moment das Buch „Endlich ohne Alkohol!“ oder „Jetzt ist es genug! Leben ohne Alkohol“ empfehlen, damit er Ruhe gibt. Aber nur in diesem Moment erscheint meist jemand, der stolz erzählt, er mache gerade eine dreimonatige Alkoholpause und seitdem laufe alles in seinem Leben viel besser. Alltagsmissionaren kann man ihre Abstinenz schwer übel nehmen, sie tun ja das Richtige. Sie schaffen das, was man sich selbst an Sylvester vornimmt, aber nie einhält. Alltagsmissionare sind bewundernswerte Menschen, nur leider führen sie einem mit aggressiven Methoden die eigene Schwäche vor Augen. Deswegen will man Alltagsmissionare zumindest in Momenten, in denen man sich gehen lassen möchte, nicht in seiner Nähe haben. Ein Alltagsmissionar auf einer Party ist wie Handwerker um sieben Uhr morgens. Sie tun das Notwendige und Richtige – trotzdem möchte man sie im Vorhof der Hölle brennen sehen.

Text: philipp-mattheis - credit: complize / photocase.com

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