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Gedenkbook

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Nina Manthey ist auf Facebook mit 576 Menschen befreundet. Die Zahl wird sich nicht mehr ändern, Nina ist am 2. März dieses Jahres im Alter von 27 Jahren gestorben. Sie hatte Krebs, und sie hat gekämpft, aber es half nichts. Sie selbst ist jetzt woanders, aber ihr Profil bei Facebook gibt es noch. Freunde schauen dort vorbei und schreiben nachdenkliche Zeilen. Sie erinnern sich ihrer. Ninas Profil ist vielleicht ein Beweis dafür, dass das Internet ein bisschen mehr kann, als wir manchmal denken.

Im August vergangenen Jahres spürt Nina Schmerzen in der Zunge. Sie hat gerade ihr Grafikdesign-Studium an der Miami Ad School in Hamburg hinter sich und arbeitet im ersten Job. Ninas Vater erinnert sich, dass seine Tochter ein Jahr lang mit einer Entzündung haderte: Eines Nachts hatte sie sich im Schlaf in die Zunge gebissen, und die Verletzung war nie so recht verheilt. An der Schule war viel zu tun, die zweijährige Ausbildung gilt als lehrreich, aber anstrengend, Nina ließ sich nicht behandeln. „Sie hat mich zum Vorbild genommen", sagt Manfred Manthey. „Ich arbeite schon mein Leben lang selbstständig und bin es gewohnt, 14 Stunden am Tag zu arbeiten." Als es nicht mehr anders geht, begibt sich Nina in die Klinik. Die Ärzte raten ihr zu einer Gewebeprobe. Sie reist zu ihrem Vater nach Frankfurt und geht in die dortige Universitätsklinik. „Bösartig", sagt der Vater, als er die Diagnose zitiert. Der Zungenkrebs, meint er, könnte theoretisch mit der aufgebissenen Zunge zu tun gehabt haben. Aber Krebs ist kaum kalkulierbar, genau weiß das niemand.

Manfred Manthey ist 60 Jahre alt. Er klingt sortiert, als er in seinem Büro in Frankfurt am Main ins Telefon spricht und die Chronik seit der Diagnose durchgeht. Manthey ist Elektroingenieur und produziert Anzeigesysteme, das sind die Anlagen mit den Digital­ziffern, die zum Beispiel vor Banken Temperatur und Uhrzeit angeben. Er hat seine Tochter beneidet. „Sie hatte das Glück, ihren Traumberuf ergreifen zu dürfen", sagt er. Sie hat als Kind gemalt und gebastelt, sie hat ein paar Jahre eine Werbeschule besucht, bevor sie auf die Ad School wechselte. Alle drei Monate beginnen in Hamburg neue Klassen. Nina gehörte zu einem Jahrgang mit nur drei anderen Mädchen. „Sie hat polarisiert", erinnert sich Sophia Halamoda, 24, eine Klassenkameradin. „Sie sah wie eine Prinzessin aus: Die Haare waren blond gefärbt, und sie war immer stark geschminkt. Viele haben sie deswegen als naiv abgestempelt. Sie war aber eine konsequente Frau, die ihr Ding durchgezogen hat. Sie war stolz und stark."

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Nach der Schule wird Sophias Kontakt zu ihrer Klassenkameradin eine Zeit lang flüchtiger. Als sie auf Facebook liest, dass Freunde an Ninas Pinnwand nach ihrer Gesundheit fragen, schreibt Sophia eine Skype-Nachricht. Sie erfährt die Geschichte vom Krebs, die nach Ninas Willen eigentlich geheim bleiben sollte. Aber Ninas Freundeskreis ist zu groß. Die Schule, deren Filialen es auf der ganzen Welt gibt, hat daran Anteil. Immer wieder kommen Schüler aus anderen Städten nach Hamburg, oder die Hamburger Schüler gehen ins Ausland. Nina war je ein Vierteljahr in Stockholm, New York und Berlin. So entsteht eine Gemeinschaft, in der man sich wundert, wenn jemand, der jede freie Minute online ist, plötzlich still wird. So wird der Krebs öffentlich.

Eine Woche nach der Diagnose schneiden die Ärzte ein Stück von Ninas Zunge weg. („Ich hatte Angst, dass es danach mit dem Sprechen nicht mehr klappt", sagt der Vater. „Nina hat sehr gern und viel geredet. Aber es ging gut.") Die Ärzte entnehmen außerdem Gewebe aus den Lymphknoten und entdecken, dass der Krebs streut. Sie operieren ein zweites Mal und sind optimistisch, auch wenn Nina zehn Tage nicht reden kann. Sie schreibt Nachrichten auf einen Block. „Bitte Handy und Laptop mitbringen", notiert sie ihrem Vater. Sie zeichnet ein Bild von Gevatter Tod mit seinem Handwerkszeug, der Sense. Sie zeigt ihm den Mittelfinger. Das Foto dieser Geste stellt sie auf Facebook.

„Wenn ich abends um neun Uhr aus dem Krankenzimmer gegangen bin, hat sie mir mit der linken Hand gewinkt und mit der rechten Hand nach dem Laptop gegriffen", erinnert sich Manfred Manthey. „Das hat ihr sehr viel Kraft gegeben, weil sie gesehen hat, dass sie nicht allein ist."

Eine Mail oder Onlinekommunikation ganz generell macht niemanden gesund. Der Psychoonkologe Thomas Schopperth hat seit 25 Jahren mit Krebspatienten zu tun. Er erlebt, dass vor allem dann, wenn die Krankheit schlimmer wird, die richtig engen Freunde und die Familie bedeutend werden. Sie vermitteln allein mit ihrer Gegenwart „ein Getragensein", das nur schwierig zu ersetzen sei. Die Facebookbotschaften haben einen anderen Sinn, sagt Schopperth. Das Schreiben könne dazu beitragen, sich eigener Gefühle und Gedanken bewusst zu werden, scheinbar „Unaussprechliches" auszusprechen und der Einsamkeit oder der Sprachlosigkeit Herr zu werden: „Vor dem Absenden einer Mail kann man noch mal und noch mal drüberlesen – bis die Worte genau das ausdrücken, was einem wichtig ist."

Mittlerweile passiert es häufig, dass Menschen mit langwierigen Erkrankungen Blogs beginnen oder Sammelmails schreiben oder ihre Facebookseiten ausführlicher pflegen. Viele dokumentieren ihre Krankheit und verwandeln sie dabei. Sie formen sie zu einer Geschichte, sie erklären die Behandlung, und manchmal geben sie sie, ganz nebenbei, der Lächerlichkeit preis. Thomas Schopperth glaubt, dass das Kommunizieren dabei helfen kann, die „Lebenskrise Krebs" zu verkraften: „Die Krankheit verändert das Leben, und genau darüber wird man sich auch beim Schreiben klar." (Allerdings warnt der Psychoonkologe davor, online zu viele Details preiszugeben. Man solle sich zum Beispiel sehr gut überlegen, ob die online in einem Blog dokumentierte Krankheit nicht irgendwann einmal, während der Suche nach einem neuen Job möglicherweise, zu einem Problem werden könnte.)

„Krebsfrei", sagen die Ärzte nach der zweiten Operation zu Manfred Manthey. Sie empfehlen, zur Sicherheit, eine 37-tägige Strahlentherapie. Als Sophia an Ninas Bett sitzt, erkennt sie, dass ihre Freundin sich vor der Therapie fürchtet. Zu Hause am Computer gründet Sophia „37 days support for Nina", eine Facebookgruppe, der mehr als 100 Freunde bei­treten. Sophia sammelt Geschenke für einen 37-teiligen Strahlenkalender. Die Freunde schicken Glücksanhänger, Origamivögel, Kettchen, ein Freund aus Brasilien schickt ein Bild. „Nina hat täglich gepostet, wie es ihr geht und was aus unserem Kalender sie geöffnet hatte. Jeder sah die Geschenke der anderen. Das war so ein schönes Erlebnis."

Immer wieder beschreibt Nina ihren Zustand. „FUCK FUCK CANCER – i will beat the shit out of you!!!" lautet einmal eine Statuszeile. Eine Freundin kommentiert: „You are not alone on this battlefield, my friend!" 20 Freunde klicken den „Like"-Button. Als die Bestrahlung zu Ende ist, ertastet Nina an ihrem Hals zwei Knötchen. Die Ärzte sagen, das könne kein Krebs sein – nicht nach dieser Bestrahlung. Sie schicken Nina in die Weihnachtsferien. Im Januar sind die Knoten größer geworden. Nina wird operiert, ein schwieriger Eingriff, ein Nerv wird durchtrennt, die Zunge bleibt gelähmt. Ihr Profilbild auf Facebook wird zu Worten: „Im Kampfmodus. Level 2. Mit mehr Gegnern."

Nach einer Woche Chemotherapie fällt sie Ende Februar in ein Koma, aus dem sie nicht mehr erwacht. Am 2. März postet eine Freundin die Nachricht vom Tod in der Facebookgruppe. Sophia löscht sie nach Rücksprache mit anderen. „Die engen Freunde sollten es nicht auf Facebook, sondern am Telefon erfahren." Sie überlegt. „So ein Posting geht so schnell – und ein Tod ist so etwas Tiefes. Wir hatten Hemmungen, es auf Facebook zu veröffentlichen." Erst zwei Tage später schreibt eine Freundin die Nachricht an die Pinnwand der Gruppe. Bald schreiben immer mehr Freunde in Ninas Facebookprofil. „Du bist in meinen Gebeten" – „I have no words". Die Timeline wird zum Kondolenzbuch, das nie schließt. Noch Monate nach dem Tod schreiben Freundinnen in Ninas Profil, dass sie sie vermissen.

Am Tag der Beerdigung standen übrigens vier Kommentare an der Pinnwand, die einander sehr ähnlich waren. Freunde aus Beirut, Hamburg, New York und München notierten das Wetter in ihren Städten. Es war überall sonnig. Prinzessinnenwetter. 

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