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Im Chor der Deprimierten

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„Ich mag keine Anschreiben mehr schreiben. Ich schreib einfach: Hallo. Ich hätte gern den Job. Mit freundlichen Grüßen.“ Oh nein. Wenn jetzt auch noch Theresa in Panik ausbricht, fällt meine letzte Bastion der Zuversicht. Es ist Mitte Februar, und es geht jetzt schon seit ein paar Monaten so. Früher saßen wir zusammen, haben uns die Lunge aus dem Körper geraucht und darüber geredet, ob das nächste Festival schon ausverkauft ist. Jetzt diskutieren wir auf einmal, wie man sich am besten ein Abo der Zeit­­schrift Arbeitsmarkt teilt, von der ich noch nie gehört hatte. Und es wird ständig erzählt, wie schrecklich es ist, sich zu bewerben. Dabei habe ich doch noch ganz andere Sorgen. (Wie man ja immer noch ganz andere Sorgen hat als die, die gerade neu dazukommen.) Ich bin ein bisschen später dran mit meinem Abschluss als der Rest. Ich schlage mich noch mit Prüfungsthemen und Pro­fessorensprech­stunden herum. Aber ob ich will oder nicht, die anderen erstatten mir jetzt schon Bericht von der nächsten Front. Mir bleibt deswegen nichts übrig, als darin eine Chance zu sehen: sich als Zuspätkommender die ganze Sache zuerst von außen anschauen zu können, bevor man selbst in den Bewerbungsstrudel hin­­­eingerissen wird. Und dabei vielleicht etwas zu lernen, was ich noch gebrauchen könnte.

Bisher habe ich aber nur gelernt, mich zu fürchten. Jetzt also auch noch Theresa. Sie ist doch der perfekte Bewerber: Wirtschaftspsycho­login, an der Uni hervorragend, engagiert, neugierig. In ihrer Freizeit klettert sie. Noch bevor sie ihre Abschlussarbeit abgegeben hat, ist sie von einem Recruiter kontaktiert worden. Wer von uns sollte denn einen Job finden, wenn nicht sie? Und trotzdem: Selbst Theresa hat noch nichts und stimmt jetzt ein in den Chor der Deprimierten: „Mir vermittelt diese Bewerbungsphase so stark, dass ich scheißegal bin. Weißt du: Es sieht erst immer gut aus, aber dann klappt es einfach nicht. Es ist so eine Art versteckter Fluch.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Nicht dass ich ohne diese ungewollte Front­berichterstattung nicht schon genug Flüche auf mir lasten sehe. Alles schreit mal wieder: Jetzt wird es ernst! So heißt es ja oft – vor der Einschulung, vor dem Abitur, vor der Abschluss­arbeit. Aber jetzt fühlt es sich mehr denn je auch so an. Man ist Mitte zwanzig, die Party ist vorbei, das Geld reicht auch nicht mehr. Die Eltern können vielleicht auch nicht mehr lange für einen da sein. Langsam schleicht sich ein Gefühl ein: Diese halbwegs vorhandene Norma­lität, die man sich leidlich erarbeitet hat, sie hängt an einem dünnen Faden, den man am besten sofort mit hundert Bewerbungsanschreiben umwickelt, um ihn zu schützen. Sonst reißt er, und dann stürzt man in ein ALG-II-Empfänger-Leben ohne soziale Kontakte, und der Nachbar findet einen eines Tages tot unter einem Haufen alter Pornohefte. Ach ja: ALG II. Das Jobcenter. Noch war ich nicht drin, aber ich musste früher oft nachts an diesem großen, dunklen Klotz vorbeilaufen, der über der Stadt drohte wie Saurons Festung über Mordor. Die Geschichten der anderen beim Bier ergeben ein ähnlich düsteres Bild.

Ein Abend im März, mein Mitbewohner Christian steht noch zuversichtlich in meinem Zimmer und lässt sich von den Horrorgeschichten nicht beeindrucken. Um acht Uhr am nächsten Morgen hat er seinen Termin im Klotz. „Ich habe einen Plan“, verkündet er stolz, „und den kann ich denen dort präsentieren.“ Was sollte schon passieren? Christian hat vor Kurzem seinen Abschluss in VWL mit 1,4 gemacht. Sechs Graduate Schools hat er sich ausgesucht, bei denen er sich jetzt bewerben möchte. In seinem Zimmer liegen auf ordentlichen Stapeln die Bewerbungs­unterlagen, die Professoren schreiben schon seine Gutachten, und er rechnet die Übungs­aufgaben in den Lernbüchern für die GRE-Tests zur Aufnahme an einer amerikanischen Graduate School. 24 Stunden später steht er trotzdem wieder hier, geknickt, und sein erster Satz ist: „Ich bin ziemlich geschockt.“ Wer er ist, was er gemacht hat und welche Vorstellungen er hat – das alles habe den Mann, der ihm heute morgen gegenübersaß, nicht interessiert. „Das Einzige, was der gemacht hat, ist, meine Daten aufzunehmen: ,Das Formular müs­­sen Sie ausfüllen, das Formular müssen Sie ausfüllen. Sie müssen fünf bis zehn Bewerbungen pro Monat schreiben. Wenn Sie das nicht machen, kürzen wir Ihnen die Leistungen. Tschüss.‘ “ In Christians Gesicht zeichnet sich tatsächlich so etwas wie ehrliche Entrüstung ab – und Enttäuschung: Christian ist enttäuscht von einer Institution, der er bisher Vertrauen geschenkt hatte. Auf seine Erklärung, er bewerbe sich in diesem Monat auf Stellen und im kommenden Monat nicht auf weitere, weil er sich dann ja auf die Vorstellungs­gespräche vorbereiten müsse – keine richtige Antwort. „Das finde ich so krass, dass die überhaupt nicht auf deine Person eingehen. Das hätte ich mir nicht vorstellen können“, sagt Christian. „Jegliche persönliche Information, die man da gibt, war zu viel.“ Aus Mordor ist dann wohl wenig Rücken­deckung zu erwarten. Und ich bin weder Volks­wirt mit einem Spitzendiplom, noch werde ich von Recruitern angerufen. Was kann ich dann eigentlich erwarten?

Wenn es für mich einen passenden Testballon gibt, dann ist das Tim. Tim hat neben seinem Studium auch „geschrieben“, wie man das verdruckst so nennt, um das Wort „Journalist“ zu vermeiden. Fast überflüssig zu erwähnen, dass er jetzt schon seit fast einem Jahr auf Jobsuche ist. Mit den üblichen Erfahrungen, die einen verzweifeln lassen. Nicht überflüssig zu erwähnen und bewundernswert, dass Tim verhältnismäßig gelassen wirkt. Die zweite Vorstellungsrunde für ein Volontariat hat er vor Kurzem mit dem Hinweis abgesagt, dass die Stelle nicht tariflich bezahlt sei. Was ich von Tim gern wissen möchte: Wie macht er das? Wie kriegt man diese Ruhe und die gelassene Resignation, dass man zu so etwas noch in der Lage ist? „Die entsteht, glaube ich, aus einer ganz anderen Art von Panik: dass ich jetzt schon so lange suche und dann das Erstbeste annehme.“ Dann erzählt Tim von einem Vorstellungs­gespräch für einen Job in der „Finanz- und Unternehmenskommunikation“. Eigentlich nicht sein Ding. „Die Tage vor dem Vorstellungs­gespräch habe ich mir dann selbst einzureden versucht: Das kann doch sicher auch interessant sein. Ich habe mich da richtig reingesteigert, sogar die Finanz- und Banken-Seite in der Zeit gelesen, die ich noch nie gelesen hatte. Beim Vorstellungsgespräch und den Tests habe ich dann gemerkt, dass ich da völlig falsch bin.“ Den Test hat Tim abgebrochen und den Arbeit­gebern erklärt, dass das alles nichts für ihn sei. Er hat sich dafür entschuldigt, dass er ihre Zeit in Anspruch genommen habe. „Worauf die mich tatsächlich eine halbe Stunde beredet haben, weiterzumachen – und dass der Job ja gar nicht so schlimm sei. Ich glaube, dass das vielleicht so eine Art Schlüsselerlebnis war: Die Seiten wa­ren vertauscht. Die wollten mich und haben mich nicht bekommen. Es war nicht umgekehrt, wie sonst immer.“ Gestern hat er einen Anruf aus der Onlineredaktion der großen Zeitung verpasst, bei der er sich in einer weniger gelassenen Phase doch noch mal um ein Praktikum beworben hatte. Besonders dringlich ist es ihm aber gerade nicht mit dem Zurückrufen. Ich würde vermutlich gleich zum Telefon greifen mit der Vorstellung: Vielleicht haben die ja doch einen echten Job für mich. „So was denke ich schon lange nicht mehr“, sagt Tim. Nach dem Gespräch mit ihm fühle ich mich trotzdem ein bisschen erleichtert. Ich wundere mich nur: dass er nach all dem monatelangen Bewerben überhaupt noch freiwillig so ausführlich darüber Auskunft geben mag. Und nicht selbst von dem Thema genervt ist. „Ist ja ne gute Therapie für mich. Schlimm ist nur, wenn sich diese Gespräche zu sehr in die Freizeit drängen.“ Wenigstens noch jemand, der lieber wieder über ausverkaufte Festivals reden möchte.
Vielleicht ist das ja auch nur ein Phänomen unter Absolventen der Geisteswissenschaften, dass die unklaren Berufsaussichten und das Gespräch darüber eine Zeit lang das ganze Leben durchdringt. Um mal über den Tellerrand der eigenen Peergroup hinauszuschauen, rufe ich den Freund einer guten Freundin an: Markus schreibt gerade seine Masterarbeit und bewirbt sich gleichzeitig als Wirtschafts­ingenieur. Bei ihm müsste doch alles anders aussehen, wenn er Kommilitonen beim Bier trifft. Statt Gejammer haut man sich vielleicht die höchsten Einstellungsgehälter um die Ohren, die man rausverhandeln konnte. „Gejammert wird tatsäch­lich gar nicht“, sagt Markus dann auch am Telefon, „aber es gibt auch kein Übertreiben, kein Profilieren. Die Stimmung ist relativ locker. Man ist sich seiner Position am Ar­beitsmarkt bewusst, und viele sagen sich: Ich habe eine klare Gehaltsvorstellung, und wenn die mich nicht wollen, dann geh ich woanders­hin.“ Man fühle sich einfach nicht so, als sitze man am kürzeren Hebel. Als Wirtschaftsingenieur findet man also ohne Umweg direkt zu der Einstellung, die Tim sich erst mühsam abtrotzen musste. Als er erzählt, wieso er vor den Bewerbungsgesprächen trotzdem aufgeregt ist, sagt Markus dann aber auch noch einen Satz, den ich eher von einem Geisteswissenschaftler erwartet hätte: „Ich kann mir einfach noch nicht vorstellen, dass jetzt jemand Geld für mei­ne Arbeitskraft bezahlen würde.“ Zumindest dieses ungemütliche Gefühl, dass es jetzt wirklich ernst wird, ohne dass man bereit dafür wäre, teilen also auch die Bewerber mit den besten Jobaussichten.

Mittlerweile ist es Anfang April. Theresa war inzwischen in noch mehr Assessment-Centern, wo sie Bilder malen und Rollenspiele machen musste. Zwischendurch hat sie sich sogar als Moderatorin beim Kinderfernsehen beworben. Sie hat jetzt erst einmal eine Stelle als Praktikantin in einer Unternehmensberatung angenommen. Mit einem Praktikantengehalt, für das Tim oder ich einen richtigen Job machen würden. Sie will herausfinden, ob das etwas für sie ist. Ich hingegen habe schon etwas herausgefunden: dass ich mir ihretwegen keine Sorgen machen muss. Ich glaube nämlich, ihr macht Bewerben einfach mehr Spaß, als es zuerst den Anschein hatte. „Mich stressen die Bewerbungen total“, meinte sie neulich, „aber wenn ich mal drei Tage kein Feedback bekomme oder irgendein Gespräch habe, dann nervt es mich auch.“ Die einen entwickeln eben Gelassenheit, die anderen eine kleine produktive Sucht. Christian hat auch noch mal mit dem Jobcenter gesprochen: Laut geltender Rechtssprechung befindet er sich noch drei Monate in einer „Orien­tierungsphase“, in der die Eltern unter­halts­pflichtig sind und das Jobcenter gar nichts zahlt. Die Eltern freuen sich zwar nicht, aber Christian ist wenigstens das Problem los, fünf bis zehn Bewerbungen schreiben zu müssen für Stellen, die er nicht will, während er sich eigent­lich auf Vorstellungsgespräche vorbereiten muss. Ach ja, und Tim ist, einen Tag nachdem ich mit ihm gesprochen hatte, von der Onlineredaktion einer anderen großen Zeitung angerufen worden. Zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Für einen echten Job. Und ich? Ich muss nächste Woche mal wieder in die Sprechstunde meines Professors. Viel­leicht hat der ja eine Stelle für mich. Ich sage dann am besten einfach zu. Dann erspare ich mir das alles von vornherein.



Text: lars-weisbrod - Illustration: Joanna Swistowski

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