Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Luca und Matteo

Text: Filifjonka

Es gibt Geschichten, die man einfach teilen muss. Die man nicht für sich behalten kann und an die man sich immer wieder erinnert. Diese hier gehört dazu. Und darum erzähle ich sie euch, dem Jetzt-Kosmos.



Als ich Luca und Matteo kennen lernte, war der Sommer fast zu Ende, aber die Stadt noch voller Touristen. Ich war freitagnachts in einer dieser Großraum-Discos gelandet und tanzte allein in den Morgen. Allein allein, allein allein. Ich konnte jedes Wort mitsingen. Laut und glücklich, denn Singen gehört zum Tanzen wie… wie Zucker zum Zuckerhut. Oder so. Und ich war ja gar nicht allein, allein, sondern mit hunderten von Tanzwütigen in der kleinen Nebenhallte, wo Rock und Indie gespielt wurde. Also die Musik, die ich am liebsten mag. Anna und Paulina waren schon ein paar Stunden zuvor losgerannt, um die letzten S-Bahnen zu erwischen, und ich war erleichtert vor den House- und Techno-Beats in den weniger dicht besiedelten Raum nebenan geflohen. Leider wohnte ich damals noch nicht in dieser schönen Stadt und war auf die Deutsche Bahn angewiesen, um nach Hause zu kommen. Tagsüber schlimm genug, nachts unmöglich. Und es dauerte noch eine ganze Weile bis zum ersten Zug, aber egal. Jetzt war nur Tanzen wichtig, tanzen und singen und glücklich sein. Und trinken. Die Caipi-HappyHour ausnutzen. Man ist ja nur einmal jung, und hat dieses wunderbare Kleid an, und dieses wunderbare Getränk in der Hand und hört diese wunderbare Musik. Nach Polarkreis 18 liefen die Killers und ich sang Mr. Brightside und drehte mich wie verrückt, weil das Kleid so schön flog, und ich konnte gar nicht mehr damit aufhören, weil drehen immer süchtig macht, als Kind und auch später. Und ich dachte, wenn ich das nur immer hätte, dieses Gefühl, dass mir ganz egal ist was Andere über mich denken, dann könnte ich mich immerzu benehmen wie eine Zehnjährige und einfach glücklich sein. Obwohl ich mit zehn eigentlich weder so kindisch, noch so glücklich war wie in diesem Moment des Tanzens. Jemand setzte mir den Finger auf den Kopf, während ich mich immer schneller drehte, und sagte, du bist ja ein kleiner Kreisel, und ich dachte, ja, ja, immer weiter drehen, ein Brummkreisel bin ich, aber nicht klein, auch in flachen Schuhen noch sechs Zentimeter über dem Durchschnitt. Aber drehen ist wunderbar, alles war wunderbar. Aber irgendwann kam dann doch der Schwindel und ich hab mich schnell in Richtung Sofa gekreiselt. Und ich wurde plötzlich ganz müde und dachte, jetzt ist der Moment, wo ich nicht mehr kann, jetzt muss irgendwas passieren, damit ich noch bis zum ersten Zug durchhalte. Und als ob er’s gewusst hätte, setzte sich plötzlich Einer rechts neben mich und fing an zu reden. Das war ein lustiger Kleiner (DER war klein), der mir gespielt ernst die Hand entgegen streckte und sich verbeugte wie ein Napoleon, aber dabei so viel Spaß in den Augen, dass ich ihn gleich mochte. Er hieß Matteo, aber ich sagte, ein Filou bist du, genau das, ein richtiger Filou. Und so hieß er für mich dann auch. Filou stammte aus der italienischen Schweiz und ich mochte den Akzent. Nein, stimmt nicht, ich stand total auf den Akzent. Wusste ich bis dahin selbst noch nicht. Trau ich mich auch normalerweise nicht zuzugeben. „Womit mich ein Mann rumkriegt? Also, Schwiitzerdütsch hilft schonmal ungemein.“ Lieber nicht. Aber hier sind wir ja quasi anonym.



Matteo hatte sich kaum vorgestellt, da setzte sich Einer auf meine linke Seite, ein Großer, sehr Höflicher, nicht so frech wie Filou. Aber mit dem gleichen Akzent. Das war Luca. In Lucas Augen lag etwas Ernstes, Schwermütiges, aber zusammen mit Matteo war er lustig, lachte viel und unterhielt mich eifrig. Die reinste Clownsnummer, dachte ich. Der große, traurige Harlekin und der kleine Hofnarr. In Gedanken malte ich Luca eine Träne unter’s Auge und setzte Matteo den Narrenhut auf. Sehr hübsch.



Filou machte Scherze und hatte Spaß daran, mich zu necken und zum Lachen zu bringen. Luca spielte meinen Beschützer und achtete streng darauf, dass sein Freund mir nicht zu nahe kam. Oh, bestimmt haben sie diese Show schon vor vielen Mädchen abgezogen. Und ich schämte mich im Nachhinein auch eine angemessene Zeit lang für mein albernes Gekicher dabei. Ich bin kein dummes, naives Mädchen, das könnt ihr mir glauben. Und wenn doch ab und zu, dann immer freiwillig, was ja zumindest Naivität ausschließen dürfte.



Nach und nach leerte sich die Tanzfläche, aber wir blieben sitzen, bis uns die Putzkolonne als Letzte vertrieb. Die Helligkeit draußen kam uns seltsam vor, wie immer  wenn man nach dem Weggehen überrascht feststellt, dass die Sonne heimlich aufgegangen ist, während man bis gerade eben noch die Nacht gefeiert hat. Die beiden hatten mich links und rechts untergehakt und wir ließen uns ein Stück von den übrigen Heimkehrenden treiben, aber ich dachte nicht ans heimkehren, wozu auch, wenn es doch hier viel schöner war, so schläfrig, glücklich und zusammen. Matteo und Luca schlugen vor, zu ihrem Hotel zu fahren und ein wenig zu schlafen, bevor sie wieder zu ihrem Touristenprogramm zurückkehren würden. (Also zum Feiern.) Oh, da hab ich mich aber aufgeregt, könnt ihr mir glauben. Was sie denn von mir halten würden, hab ich gesagt, dass sie meinen, ich würde einfach so mit ihnen in ihr Hotel kommen, und dass ich sie ja gar nicht kenne, und sie mir ja sonstwas antun könnten, und dass ich nicht so eine wäre undsoweiterundsofort. (Um den eigenen Ruf zu schützen, ist ein bisschen gespielte Empörung nie schlecht, da kann man schonmal etwas übertreiben.) Und Matteo fragte mich, ob ich denn wirklich Angst vor ihnen hätte, und sie sahen mich mit übergroßen Augen an, unschuldig wie Mutter Teresa, und ich lachte sie aus. Und Luca schwor, sie wären echte Gentlemen, wobei er Matteos Hand von meiner Hüfte schlug, der eifrig nickte. Und es war so rührend und absurd, diese zwei harmlosen Zirkusclowns, dünn wie Spargel, die mir charmante Lügen erzählten und genau wussten, dass dieses Spiel gerade wegen seiner Durchschaubarkeit so schrecklich viel Spaß machte und fast unwiderstehlich war. Und ich, die Vernunft in Person, sagte: ich sitz in der Mitte, und kletterte ins Taxi.



Ich weiß genau, was ihr denkt. Die einen denken, ist die vielleicht blöd. Eine dumme Gans, die sich von ein bisschen Geschmeichel einlullen lässt und sich auch noch toll und verrucht dabei vorkommt, wenn sie ausgenutzt wird. Mal ganz davon abgesehen, wie gefährlich sowas ist. Und die Anderen denken, na und, ist das jetzt was besonderes? Was interessieren mich die Geschichten von einem überbehüteten Schaf, das meint, endlich mal was zu erzählen zu haben? Mir passiert sowas jeden Tag und ich geb nicht damit an.



Dazu möchte ich sagen, erstens komme ich mir nicht toll und verrucht vor, nur ein klitzekleines bisschen verrucht, und außerdem, seid ihr vielleicht gegen Geschmeichel immun? Allein dieses Wort, Geschmeichel, oder Schmeichelei, das schmiegt sich ja schon so an einen ran wie eine Miezekatze, da kann man überhaupt nicht anders als sich geschmeichelt und geschmauchelt zu fühlen! Und was die Gefahr angeht: Jeder, der einen Funken Menschenkenntnis besitzt, hätte gewusst, dass dieser schweizer Minizirkus zu keiner Art von Bedrohung fähig gewesen wäre, und die Beiden noch nicht mal als Handlanger der Handlanger einer Bedrohung getaugt hätten. Und zweitens bin ich der Überbehütung schon vor mindestens… ziemlich vielen Jahren entwachsen und habe überhaupt kein Interesse daran, anzugeben, sondern einfach nur ein extrem großes Mitteilungs- und Schreibbedürfnis, das irgendwie befriedigt werden will, und da ist es doch nur natürlich und ja auch in eurem Interesse, wenn ich mir dafür die wenigen interessanten Begebenheiten in meinem trübsinnigen Dasein herauspicke. (Das trübsinnig stimmt nicht, sollte nur dem Effekt dienen. Mein Dasein ist super. Aber trotzdem.) Und außerdem ging es in dem Moment damals gar nicht darum, etwas zu erleben, was man später erzählen konnte. Sondern um das Bedürfnis nach Nähe zum Fremden, das unser aller Leben in der Anonymität so prägt und schließlich auch die Existenz von sozialen Netzwerken wie diesem hier rechtfertigt. Und hier in der Stadt scheint mir dieses Bedürfnis greifbarer zu sein als irgendwo sonst.



Aber lasst mich erst mal zu Ende erzählen, bevor ihr euer Urteil über mich fällt.



Als wir vor dem Hotel ausstiegen, ging Filou vor und lugte in den Empfangsraum, um mich unbemerkt an dem Menschen hinter dem Tresen vorbei zu schmuggeln. Ich vermute, das galt nur dem Show-Effekt, denn welche Hotel-Angestellten sind denn heutzutage tatsächlich noch schockiert, wenn ein Gast Besuch des anderen Geschlechts empfängt, oder würden sich gar erdreisten, Besuchsempfang zu unterbinden? Als Matteo uns ein „die Luft ist rein“ signalisierte, schlich ich mich trotzdem bemüht heimlichtuerisch am leeren (!) Empfangsraum vorbei in den Aufzug, um ihm die Freude nicht zu verderben. Als wir das Zimmer betraten, ging ich neugierig voraus und sah zunächst nur einen Schrank und ein schmales Bett an der Wand stehen, doch als ich weiterging, tauchte ein weiteres Bett auf, dessen Breite fast den ganze Raum einnahm. Und auf diesem Bett lag Jemand und schnarchte. Überraschung! rief ein imaginärer Chor in meinem Kopf. Und ich fragte halb vorwurfsvoll, wie viele seid ihr eigentlich noch? Matteo lachte nur und Luca grinste verlegen. Der Schnarcher lag quer über dem ganzen Bett und schlief offenbar einen Rausch aus, aber da wir langsam auch ziemlich müde waren, quetschten wir uns gegenüber auf der schmalen Matratze zusammen. Lustig, so zu dritt auf 90 Zentimeter Breite mit nur einer Decke. So kann doch kein Mensch schlafen, schimpfte ich und stand auf. Tatsächlich ließ sich der dritte Schweizer nach einer Weile von mir wecken und schlaftrunken zum Bettentausch überreden. Meine Anwesenheit schien ihn nicht das kleinste bisschen zu überraschen und wortlos ließ er sich auf sein Lager fallen. Endlich Platz. Ich und ließ mich begeistert in die warmen, weichen Kissen fallen und sicherte mir den Platz in der Mitte. Was gibt es schöneres als Daunendecken mit frischer, weißer Bettwäsche? Wir nahmen uns bei der Hand und ich dachte, so müsste man immer schlafen, Hand in Hand. Wenn Anna und ich bei Paulina übernachteten, schlief ich auch immer in der Mitte und genoss das Gefühl von Geborgenheit, das mich umfing. Diesmal war es ganz genauso. Nur dass wir uns bei Paulina normalerweise nicht küssten.



Eigentlich wollten wir wirklich schlafen, aber Lucas liebes Gesicht war so nah an meinem, dass ich den Nasenstupser bei ihm machte, woraufhin er mir einen Kuss gab. Und ich weiß noch wie ich mir dachte, dass das Matteo gegenüber unfair ist, wo er sich doch solche Mühe gegeben hatte. (Und Fairness sollte im Bett schließlich eine Rolle spielen, damit niemand vernachlässigt wird. Also, finde ich.) Und vielleicht dachte ich mir auch, dass mir dieser kleine Lumpi gefällt mit seiner frechen Art und seinen Händen, die er nicht bei sich behalten kann. Darum drehte ich mich um und gab ihm auch einen Kuss, und dann wieder einen für Luca und einen für Matteo, einen für den traurigen Clown und einen für den lustigen Clown, einen für den Beschützer und einen für den Gauner undsoweiter. Und ich dachte mir, das ist wieder ein Kreiseltanz, nur diesmal nicht allein allein, und ohne jealousy und sick lullabies wie in Mr. Brightside. Aber mit dem gleichen herrlichen Gefühl wie beim Tanzen.



Kurz danach wurde es einen Moment lang extrem schwierig, als ich versuchte, aus dem wunderbaren Kleid zu kommen. Das sieht nämlich leider nur wunderbar aus, trägt sich aber ganz unwunderbar. Aber ich hatte irgendwo gelesen, der Nacken wäre das neue Dekolleté (gedankliche Notiz: aufhören, diese Zeitschriften zu lesen) und mich am Abend zuvor für Rückenfrei entschieden, was eine relativ aufwendige BH-Konstruktion aus Klebeband und Sicherheitsnadeln notwendig machte, die mit dem Kleid verbunden war. Matteo amüsierte sich über mein Gezappel unter der Decke und Luca zeigte sich besorgt über das Geräusch, als ich das Klebeband von der Haut riss. Aber ich wollte es alleine schaffen und verzichtete auf Hilfe, in dieser Hinsicht bin ich emanzipiert. Irgendwann schaffte ich es auch. Selbst ist die Frau.



Später redeten wir noch eine Weile miteinander, sprachen über Deutschland und die Schweiz, über Männer und Frauen und darüber, ob Letztere in Deutschland wohl offener waren als in der Schweiz. Dann schlief Matteo ein. Und Luca nahm mich in den Arm und begann zu erzählen. Von seinem Leben, von seinem Job und davon, was ihm wichtig war. Vor allem aber erzählte er von dem Mädchen, mit dem er lange zusammen gewesen war und das er noch liebte. Das Traurige in ihm kam zum Vorschein und die Harlekinsträne wurde echt. Ich weiß nicht, ob ich ihn tröstete, aber wir tauschten Kummer und Küsse aus und es tat gut. Er sagte, ich glaube, du bist ein sehr liebenswerter Mensch, und ich ließ mir diesen Balsam gefallen und dachte, ja. Und wenn es den Menschen helfen könnte, glücklicher zu sein, würde ich die ganze Welt küssen. Und wir blieben wach und wärmten uns, bis das Taxi kam und mit ihm der Zug, der mich nach Hause brachte.

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: