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„Boris, du Depp!“

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Ein Stöhnen dringt aus der Wohnung meiner Oma. Dann ein Schrei. Beides hallt in der Kälte des Treppenhauses leise nach, als ich die vierte Etage des kleinstädtischen Mietshauses endlich erreiche, in dem sie seit vielen Jahresn lebt. Die Tür steht offen. Leicht außer Atem trete ich ein. Plötzlich: Applaus.

Als ich den ersten Schritt in das Wohnzimmer meiner Oma setze, redet eine monotone Männerstimme laut auf sie ein. Die Stimme kommt aus dem alten Fernseher, der eigentlich bloß dann nicht läuft, wenn sie einkaufen geht oder schläft. Sie sieht mich kurz an, ich umarme sie zur Begrüßung, doch meine Oma schiebt mich hastig beiseite, um wieder freien Blick auf die Übertragung des Wimbledonfinales zu bekommen, bei dem sich Kevin Curren und der erst 17-jährige Boris Becker gegenüberstehen. „Boris, du Depp!“, schreit sie plötzlich, als die deutsche Tennishoffnung unglücklich einen Ball ins Netz schlägt. Sie sieht mich wütend an. Dann lächelt sie verlegen ihr Omi-Lächeln, bevor sie sich wieder voller Empathie für ihren baldigen Lieblingssportler, dem TV-Gerät zuwendet. Was soll ich sagen: Meine Oma ist eben emotional, wenn es um Tennis geht.

Es ist der Nachmittag des 07. Juli 1985, etwa eine halbe Stunde bevor Boris Becker als erster Deutscher und jüngster Spieler das prestigeträchtige Wimbledonturnier in London gewinnt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Boris Becker 1985: in Wimbledon

Knapp 26 Jahre später. Ich mogle ich mich durch die zufallende Glastür am Eingang des Grands Hyatt Hotels am Potsdamer Platz in Berlin. Zwei aalige Geschäftsleute in dunklen Maßanzügen kommen auf mich zu. Der Jüngere von ihnen mustert mich kurz, während er seinen Nebenmann mit schwäbischem Akzent auf das Championsleague-Viertelfinale am nächsten Tag einschwört. Der laute Duft eines billigen Männerparfums erreicht meine Nase.

Ich muss zu einem Raum mit dem wohlklingenden Namen Isozaki im ersten Stock des Gebäudes und nehme die graue Marmortreppe. Ein Kamerateam kommt mir entgegen, im Hintergrund Stimmengewirr aus dem Restaurant im Erdgeschoss. Business Lunch. Als ich die verschlossene Eingangstür des besagten Raumes endlich erreiche, warten bereits zwei schlaksige Männer davor. Wir nicken uns kurz zu, lassen schweigend ein paar Minuten verstreichen, bevor eine blonde Frau im schwarzen Hosenanzug schnellen Schrittes um die Ecke biegt und schnurstracks auf uns zusteuert. Die anderen beiden scheint sie zu kennen, man begrüßt sich, Küsschen rechts, Küsschen links – der übliche Smalltalk. Dann kommt sie auf mich zu, gibt mir die Hand und wirft einen Blick auf ihre silberne Armbanduhr. „Noch fünf Minuten“, sagt sie. „Noch fünf Minuten“, hallt es in mir nach.

Noch fünf Minuten bis zu meinem ersten Aufeinandertreffen mit Boris Becker.

Anlass für das verabredete Interview mit ihm ist seine Teilnahme bei der EPT, der European Poker Tour, die es im vergangenen Jahr aufgrund eines spektakulären Raubüberfalls in eben jenem ersten Stock des Grant Hyatt Hotels in Berlin zu trauriger Berühmtheit gebracht hat. Noch vier Minuten. Ich denke darüber, ob ich aufgeregt bin, gleich dem leibhaftigen Boris Becker gegenüberzustehen, dem weltberühmten Tennisstar, der Werbeikone, dem Idol meiner Oma.

Noch drei Minuten. Ein Bataillon korrekt gekleideten Servicepersonals des Hotels durchschreitet den Flur, vorbei am Raum Izozaki, bewaffnet mit Brotkörben und Suppenschalen. Noch zwei Minuten. Ich hole mein zerkratztes Diktiergerät und einen Zettel mit vorbereiteten Notizen aus der linken Brusttasche meiner Jacke, werfe einen flüchtigen Blick auf die Einstiegsfrage. Noch eine Minute. Das Bataillon kommt zurück. Wieder beladen. Diesmal Teller. Alle leer.

Die Tür geht auf. „Treten Sie ein, Herr Schieferdecker. Herr Becker erwartet Sie.“

Und da steht er. Boris Becker, am Kopf eines ovalen Pokertisches, der mit rotem Filz überzogen ist. Im Gegenlicht des sonnendurchfluteten Fensters in seinem Rücken verschwimmen die Umrisse seines hünenhaften Körpers für den kurzen Moment, den meine Augen dafür benötigen, sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Oder liegt es doch an der vielbeschworenen Aura, die den weltberühmten Tennisstar angeblich umgeben soll?

Wir geben uns die Hand.

Ich werde von der Blondine im Hosenanzug noch einmal daran erinnert, dass ich keine Fragen zum Privatleben von Herrn Becker stellen darf und setze mich auf den freien Stuhl neben ihn, schalte das Diktiergerät ein.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Boris Becker heute: am Pokertisch.

Ich frage mich, was meine Oma wohl sagen würde, hätte sie diesen Moment noch miterleben können. Boris Becker hingegen frage ich nach den Gründen für seine Pokerleidenschaft. Es ist ein angenehmes Gespräch. Becker ist Medienprofi. Er gibt bereitwillig Auskunft über Poker, über Tennis, über Ehrgeiz und Erfolg. Er macht einen sehr offenen Eindruck, streut auch mal einen Witz ein. Als er in einem Nebensatz seinen ersten Wimbledonsieg erwähnt, höre ich ihn plötzlich nicht mehr reden. Stattdessen kommen all die Bilder aus der Wohnung meiner Oma zurück, die bei diesem Sieg so selbstvergessen am Fernseher mitgefiebert hat; wie sie gelitten, gezittert, gehofft und gejubelt hat, als Boris Becker damals um 17.26 Uhr Londoner Zeit sein erstes großes Grand-Slam-Turnier gewann.

Ich beschließe, Boris Becker von meiner Oma zu erzählen. Natürlich nicht alles, aber dass sie ein riesiger Fan von ihm war, nahezu alle Spiele gesehen, ihn bei Siegen bejubelt und bei Niederlagen angeschrien hat – selbstverständlich alles gemütlich vom heimischen Sofa aus. Boris Becker lächelt, er hört so eine Geschichte nicht zum ersten Mal. Doch als er mir am Ende unseres Gesprächs die Hand gibt und bedauert, meine Oma nie kennengelernt zu haben, macht mich das irgendwie glücklich. Denn viele, viele Jahre hat meine Oma ständig an Boris Becker gedacht. Und nun dachte er für eine Minute auch mal an sie. An meine tennisverrückte Oma.

Als ich das Grant Hyatt Hotel kurz darauf wieder verlasse und Boris Becker sich einem weiteren Interview stellen muss, diesmal mit einem 14-jährigen Schülerpraktikanten aus der Bild-Sportredaktion, bin ich zufrieden. Ich stelle mir vor, wie stolz meine Oma auf mich gewesen wäre, hätte ich ihr von diesem Treffen erzählt. Wie aufgeregt sie bereits vor dem Telefon gewartet hätte, um in diesem Moment jedes einzelne Detail des zehnminütigen Gesprächs von mir mit Boris Becker zu erfahren. Wie sie ihre viel zu große Brille abgenommen und sich vor Rührung eine Träne aus dem Auge gewischt hätte, wenn ich ihr gesagt hätte, dass wir auch über sie gesprochen haben.

Und einer Sache bin ich mir fast sicher: Als Boris Becker beim Pokern am nächsten Tag bereits nach der ersten Runde aus dem Turnier ausgeschieden ist, hat meine Oma ihm vom Himmel aus dabei zugesehen. Und vermutlich so was geschrien wie: „Boris, du Depp!“

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