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Klassentreffen nur mit mir

Text: BenUtzBar





Ich bin letztens an meiner alten Schule vorbeigefahren.
Nicht wirklich beabsichtig, dennoch nahm ich mir die Zeit, schloss mein Fahrrad an einen wackeligen Bauzaun, und schaute mir "den alten Steinbruch", wie mein Vater zur Schule immer zu sagen pflegte, noch einmal genauer an.

Der Plan war eigentlich unerkannt durch die Flure zu schlendern, alte Erinnerungen zu wecken, um dann zeitnah wieder die Segel zu streichen. Doch leider kreuzte sich mein Besuch offenbar mit dem Anfang der großen Hofpause, wenn man das überhaupt heute noch so nennt, sodass mir in der Eingangshalle einzelne Gruppierungen Jugendlicher entgegen steuperten.
Ein paar Mädchen liefen erst erstaunt und überrascht, dann aber laut kichernd an mir vorbei, wohl in der Annahme ich sei ein neuer, noch frisch studierter, Erdkunde-Lehrer, der etwas vorsichtig seinen neuen Arbeitsplatz begutachtet.
Ich muss scheinbar wirklich etwas verloren gewirkt haben.
Was ich aber schnell wiederfand war die alte Treppe im hinteren Teil der Schule, welche die Schüler nie großartig warnahmen, da es ja viel bequemer und schneller über die große Haupttreppe ging.
So konnte ich, nach anfänglichem Scheitern, doch unauffällig in die Etagen mit den Klassenzimmern gelangen.
Was jedoch noch auf sich warten ließ, waren die vielen Erinnerungen, die sich bei einem halben dutzend Schuljahren ja eigentlich aufgestaut haben müssten.
Nach kurzem Suchen fand ich sogar unseren alten Klassenraum und stand dann genau vor dem Platz an dem ich die längste Zeit über im Unterricht sahs und überlegte, wie ich am unterhaltsamsten die Zeit rumkriegen könnte, während der Lehrer vorne irgendetwas brabbelte.
Da mein Gedächtnis immernoch keine verdrängten Anekdoten auszuspucken wusste, beschloss ich mal einfach mich selbst zu fragen.
Mich vor 8 Jahren.
Ich setzte mich also, lässig den Stuhl falsch herum vor mich stellend, ich will ja einen besonders coolen Eindruck machen, vor meinen alten Schultisch und stellte mir mich mit ungefähr 14-15 auf der anderen Seite, geduldig seine Scout-Schulmappe auf die oberste Mitte des Tisches fixierend, vor.
Wie würde das wohl laufen?
Ich würde das Eis wohl erstmal mit einer etwas offensiveren Feststellung brechen wollen.
"Boah siehst du scheiße aus."
Da hockt dieser dürre, mit leichten Hautirritationen behaftete, Bursche und streift sich, etwas ratlos durch den Igel-haarschnitt.
Zu jener Zeit gab es auf meinem Kopf eigentlich nur diese Haarfrisur zu bewundern, die meinen Schädel immer etwas zu rund wirken ließ.
Der unproportional ausgebildete Oberkröper wurde meist durch einen Rollkragen Pullover verdeckt, da ich erst mit 16-17 die Vorzüge langer schlackernder Hip Hop Klamotte schätzen lernte.
Die Brille, welche mich einen Großteil meiner Kindheit begleite hatte, war aber schon abgelegt.
Groß auf mein Aussehen achten, tat ich aber trotzdem nicht.
Und das brachte mich zur ersten Frage: "An was denkst du so gerade?"
Denn mal ganz neben den kleinen Gedankenfetzen an die äußerlichen Gegebenheiten, konnte ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, was mir damals so im Kopf herum ging, was mir damals wichtig war, was ich gerne gemacht habe und was nicht.
Dabei glaube ich eigentlich, dass man sich als Charakter ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr großartig verändert, sondern nur noch an Erlebnissen dazu gewinnt.
Doch diese, eh schon sehr waage, Theorie fällt ja völlog auseinander, wenn ich mich an meine damaligen Gedanken gar nicht recht erinnern kann.
"Ich hab meine Physik Hausaufgaben nicht gemacht."
Klar habe ich die nicht gemacht. Unsere Physik Lehrer waren alle aus dem selben einschläfernden Holz geschnitzt.
Vollbärtige, aber kahlköpfige, ältere Männer, die 44 Minuten der Unterrichtszeit dazu benutzten mit der Tafel zu reden, um in der abschließenden Minute ein schlecht kopiertes Arbeitsbaltt verteilen zu lassen mit der Aussage: "Schaut euch das gut an, da schreiben wir nächste Woche einen Test drüber!"
"Aber gleich haben wir Geschichte, da weiß ich schon was wir machen."
Ja, Geschichte war eines der wenigen Fächer bei denen ich mir das Lehrbuch mal von innen angeschaut habe, manchmal sogar noch vor dem Unterricht, um den Lehrer zu beeindrucken, was ich alles schon so weiß.
Unser Geschichtslehrer war das krasse Gegenteil zum Physik-Futzi.
Der kam immer in den Raum spaziert, gerne auch mal 5 Minuten nach Unterrichtsbeginn, fragte kurz was denn heute laut Lehrplan besprochen werden sollte, und fing dann doch lieber an über Gott und die Welt mit uns zu philosophieren.
Ich kann ihn mir hier im Klassenraum immernoch sehr gut vorstellen, wie er bei der schönen Jule auf dem Schultisch hockt und sich über ihre zu kurzen Oberteile aufregt, und das sie da doch "was an den Nieren" bekommen würde.
Ein klasse Kerl war das.
Viel mehr war aber aus mir nicht rauszulocken.
Ein wenig zu ängstlich hocke ich da und scheine mit den Gedanken irgendwo anders zu sein, nur wo?!
Dann starrt er mich aber plötzlich mit einem überraschend konzentrierten Blick an.
Die Karten wurden neu gemischt, das Blatt hat sich gedreht, jetzt ich stehe unter Begutachtung!
So werd ich also mit Anfang/Mitte Zwanzig aussehen. Ziemlich öde mit dem schwarzen Mantel und der dunkel blauen Jeans, aber wenigstens das mit den Hautirritationen scheint sich erledigt zu haben.
Trotzdem aber noch mit dem Fahrrad unterwegs und kein cooles Auto, oder Motorrad.
Aber ein cooles Handy, und n Laptop. Eine eigene Wohnung? Cool!
Was beruflich aus mir werden soll schein ich mit 13 besser zu wissen als mit 23...
Naja, alles in allem cool aber ausbaufähig!
So verlasse ich den ängstlichen Geschichtsstreber wieder, und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, wenn ich daran denke, was für Fehler der Trottel ja noch alles machen wird.

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