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Was bin ich?

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Manchmal ist es nötig, dass man alles, was man glaubt gelernt zu haben, mal kurz vergisst und ganz von vorn anfängt. Und auf dich kommt so ein Moment zu, denn, so leid es mir tut: Du bist belogen worden. Ein ganzes Leben lang haben sie dich mit einer Frage verfolgt, die von einer falschen Voraussetzung ausging: „Was willst du denn einmal werden, wenn du groß bist?“

Es war nett gemeint. Es sprach echtes Interesse aus der Frage nach deiner Zukunft und nach deinem Wohlergehen, denn die Berufswahl ist wichtig. Sehr wichtig, für das Selbstverständnis, für die eigene Würde, für das persönliche Glück. Aber die Frage ist falsch. Es geht, wenn man glücklich sein möchte mit dem, was man tut, nicht darum, was oder wer man werden will. Sondern darum, wer man ist. Denn während wir alle mit der Vorstellung aufgewachsen sind, es gehe irgendwie um die Tätigkeit, die man den ganzen Tag ausführt, darum, was man tut, ist in Wahrheit allein wichtig, warum man es tut. Oder würde irgendjemand „hier“ rufen, wenn die Frage wäre: „Möchtest du gern im Schichtdienst mit den Körperflüssigkeiten schlecht gelaunter, manchmal eklig entstellter Menschen hantieren und dafür auch noch schlecht bezahlt werden?“ Wahrscheinlich nicht. Aber die Frage: „Möchtest du Menschen helfen, die Hilfe brauchen, weil sie krank sind“ öffnet die Augen dafür, dass Krankenpflege ein lohnendes, erfüllendes Berufsfeld sein kann. Obwohl die Tätigkeit immer noch die beschriebene ist. Nein, es kommt nicht darauf an, was man tut, sondern was man ist. Was die eigene Motivation ist. Bringt ein Chef den Müll raus? Ja, macht er – wenn es seine eigene Firma ist. Denn dann tut er alles, was nötig ist, damit es läuft. Motivation eben. Die richtige Frage ist also nicht: Was willst du werden? Sondern: Was bist du?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Diese Frage wird nicht gestellt. Man kann durch die Schul- und sogar die gesamte Universitätszeit gehen, ohne sie je zu hören. Es ist sogar noch fataler: Wer sie überhaupt je hört, der hört sie heute meistens in einem völlig anderen Zusammenhang. „Was bist du?“ hören Kinder von Einwanderern immer mal wieder, aber nur im Zusammenhang mit ihrer Nationalität. „Fühlst du dich mehr als Deutscher oder als Grieche?“ – das bin ich nicht so selten gefragt worden. Und die Antwort ist: Ich habe keine Ahnung. Woher soll ich wissen, wie sich irgendein anderer Grieche oder Deutscher fühlt? Die Realität ist: Ich bin beides, aber ich bin noch viel mehr etwas anderes – nämlich ich. Ich, mit dem, was ich tun will. Ich mit meiner Motivation.

Erstaunlicherweise wäre es hier die richtige Frage: Einen Einwanderer der dritten Generation sollte man fragen, was er werden will. Ein Deutscher mit ausländischen Wurzeln? Ein Ausländer mit deutschem Wohnsitz? In Ordnung ist das alles, aber vielleicht öffnet es den Weg zu der einen Frage, die für uns alle hinter den vielen vorgeschobenen Gedanken und Diskussionen steht: Wie willst du leben? Wir könnten uns all den Sarrazin-Quatsch und jede Menge anderes Unglück ersparen, wenn wir es schaffen würden, zu organisieren, dass jeder in diesem Land diese Fragen gestellt bekommt und für sich beantworten darf, ob Deutscher oder Ausländer, Abiturient oder Hauptschüler: Wer bin ich? Wie will ich leben? Was ist meine Motivation?

Es liegt, das ist ein Tipp fürs Leben, wenig Freude darin, darauf zu warten, dass andere sich ändern. Sie tun es nicht. Und es liegt sehr wenig Freude darin, darauf zu warten, dass du dich änderst. Du wirst etwas werden in deinem Leben, aber du wirst es nicht bemerken – oder erst, wenn deine Kinder dich peinlich finden. Das sind die schlechten Nachrichten. Die gute ist: Du bist schon wer. Und wenn du weißt, was dich antreibt, dann wird der Rest sich finden, solange du dich nicht reduzieren lässt. Die Frage ist: Was bist du? Nicht: Was bist du von Beruf? Nicht: Was haben deine Eltern für einen Pass? Nicht einmal: Was willst du tun? Denn Tätigkeiten sind zweitrangig. Aber weil vielleicht niemand dir die richtigen Fragen stellen wird, musst du es eben selbst tun. Manchmal ist das nötig. In deinem Fall genau jetzt.

Dieser Text ist im Magazin jetzt - Schule&Job der "Süddeutschen Zeitung" erschienen. Eine Übersicht der Texte aus dem Heft findest du im Label Schule_und_Job.

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