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Warum Doktor machen?

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Neulich habe ich mal alles ausgedruckt. 160 Seiten lagen da vor mir, und ich konnte es kaum glauben, dass ich fast fertig bin. Das war nach einem zehntägigen Aufenthalt auf Helgoland, dieser seltsamen porösen Sandsteinerhebung mitten in der Nordsee. Dorthin hatte ich mich zurückgezogen, um wieder hinein zu finden, in den Stoff, den Text, Wortverbindungen, die ich irgendwann zwischen 2007 und heute zu Papier gebracht hatte, und deren Bedeutung mir immer erst am zweiten Tag so langsam wieder klar wird, nach dem vierten Lesen.
Ich schreibe eine Doktorarbeit über Bewusstseinsphilosophie. Ich vergleiche zwei zeitgenössische amerikanische Philosophen, die keiner kennt, in einem Fach, dass die meisten mit Psychologie verwechseln, obwohl es gar nicht ähnlich klingt. Ich schreibe über Bewusstsein.

"Bewusstsein? Ja, das kenne ich, das ist krass.", ist so eine Standard-Reaktion.

Es ist tatsächlich krass, eben weil es jeder kennt, weil jeder eines hat, und deswegen auch jeder etwas dazu sagen kann, aber was die Philosophie dazu zu sagen hat, ist für die meisten Menschen eine Enttäuschung. Und warum machst du das dann? Ich weiß nicht, wie oft ich das schon alles abgespult habe, die Umschreibung meines Themas, die Motivation für diese Arbeit, meine Einstellung zum Fach, auf Familienfesten, in Bars oder bei der Einreisekontrolle in die USA. Je öfter ich es wiederholte, desto wahrer wurde es. Es stimmt, dass mich der moderne Rest des alten philosophischen Leib-Seele-Problems interessiert. Es stimmt auch, dass ich nach meiner Magisterarbeit nicht das Gefühl hatte, etwas gelernt zu haben oder verstanden. Und es stimmt, dass dieses Projekt der Versuch ist, so etwas wie eine eigene philosophische Haltung zu entwickeln.
Aber es stimmt auch, dass ich schon unzählige Male alles hinwerfen wollte, dass ich Magenkrämpfe bekam, wenn ein wohlmeinender Kommilitone mir noch einen Artikel schickte, den ich noch nicht kannte, aber unbedingt berücksichtigen müsste, das wirft ja noch mal ein ganz anderes Licht auf Deine These, und es stimmt, dass die Zusage für das Stipendium in mir auch diesen Gedanken auslöste: Scheiße. Jetzt muss ich das ja wirklich machen. Es stimmt natürlich auch, dass ich diesen Titel will.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Er wird mir kein Geld bringen, keine hohe Position und er wird mir auch nicht nennenswert mehr Respekt verschaffen, als man sich in unserer Gesellschaft glücklicherweise ohnehin entgegen bringt, meistens. Das einzige, was ich mir von dem Titel erhoffe, ist ein Recht. Es ist ein Recht, dass ich mir nur selbst geben kann. Ich nehme es mir zwar auch jetzt schon ab und zu heraus, aber immer mit einem komischen Beigeschmack, mit dem Gefühl, ich hätte etwas versäumt, hätte im entscheidenden Moment nicht zugehört, oder war vielleicht einfach zu faul, damals, im Grundstudium. Mit dem Titel wird das anders.
Mit dem Titel werde ich das nächste Mal, wenn ich in einer Bar bin oder auf einer Party, wenn einer dieser allroundgebildeten Philo-Polit-Kunst-Small-Talker auf mich zu kommt, mit einem riesigen Schal wahrscheinlich, wenn er vor mir steht und an seinem Weißwein nippt und mich fragt, wie es mit meinem Projekt läuft und mich unterbricht, ehe ich antworten kann, und wenn er dann Dinge sagt wie Poststrukturalismus, Deleuze, Habermas und vor allem Adorno, Adornoadorno, und wenn er mich dann, irgendwann, wenn ihm nichts mehr einfällt, ansieht und sagt: Was meinst Du dazu? Dann werde ich sagen: keine Ahnung, mir egal. Und zum ersten Mal wird es mir wirklich egal sein.

Vor mir liegen 160 Seiten. Ich bin wirklich bald fertig. Und während ich überlege, ob ich erst die Einleitung überarbeite oder das Literaturverzeichnis, fällt mir auf, dass es eigentlich nur einen echten Grund gibt, warum ich das mache: ich habe irgendwann mal angefangen.

Text: heinz-helle - die*Mel* / photocase.com

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