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Mein Leben mit der Tigermutter

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Für eine Einwanderermutter kann es glaube ich nichts Schlimmeres geben, als vom eigenen Kind diskriminiert zu werden. Meine Mutter und ich stritten uns früher oft, laut und ausgiebig, in einer seltsamen Mischung aus Chinesisch und Deutsch. Wenn mir nichts mehr Besseres einfiel, schrie ich irgendwann: „Ich will deutsche Eltern!" Auf diesen Satz bin ich nicht sonderlich stolz. Meine Mutter antwortete darauf immer genauso unfair: „Pech gehabt." Heute können wir beide darüber lachen.

Meine Mutter war anders als die Mütter meiner meisten Freundinnen. Die chinesisch-amerikanische Juraprofessorin Amy Chua hat gerade den Begriff „Tigermutter" erfunden: asiatisch, leistungsorientiert, unerbittlich. In dem Buch „Battle Hymns of a Tiger Mother" beschreibt sie, wie sie ihre Kinder mit Kontrollwahn und Druck zu Leistung gedrillt hat und behauptet mit Verweis auf die neuen PISA-Ergebnisse sogar, das sei die bessere Erziehungsmethode. Meine Mutter hatte zwar nicht ganz so scharfe Krallen wie Chua. Ich musste während den Klavierstunden nicht hungern und durfte zwischendurch aufs Klo gehen. Aber auch sie war eine Tigerin.

Ich fing in der ersten Klasse an, Klavierunterricht zu nehmen. Meine Mutter, damals Doktorandin an der Uni, hatte kein Geld, um mir ein eigenes Klavier zu kaufen und schleppte mich jeden Nachmittag in den verrauchten Übungskeller eines Studentenwohnheims. Samstag besuchte ich mit anderen chinesischen Kindern eine von den Eltern selbst organisierte Mandarin-Lerngruppe, den Fernseher durfte ich meistens nur zur Tagesschau oder Tiersendungen anschalten. Zu der Zeit schimpfte meine Mutter oft auf das deutsche Schulsystem: Die Lehrpläne waren ihrer Meinung nach viel zu anspruchslos. Wenn meine Freunde mit einer Eins nach Hause kamen, gab es zehn Mark von den Eltern und noch mal zehn von der Omi. Von meiner Mutter gab es, wenn überhaupt, ein anerkennendes Nicken.



Ich beneidete meine deutschen Freunde um ihre Eltern. Um die teuren Weihnachtsgeschenke, um viele Freiheiten, erst recht als ich in die Pubertät kam. Meine Freundinnen mit den Hippie-Eltern gingen schon mit 15 erst nachts um zwölf auf Parties. Da hätte ich schon längst mit der letzten Straßenbahn heimfahren sollen. Ich schaffte es trotzdem, mir wichtige Absturzerfahrungen zu sichern und in der großen Pause Bong zu rauchen. Aber hauptsächlich, weil ich immer besser darin wurde, abenteuerliche Lügenkonstrukte zurechtzubasteln. Meine Mutter glaubt bis heute, dass die Schuldirektorin mir zur Strafe für zu spät zurückgegebene Unterrichtsbücher kein Zeugnis für die 11. Klasse ausgestellt hat. In Wahrheit befanden sich meine Noten im Sinkflug, das Zeugnis versteckte ich im Keller. Das war wohl das Beste für uns beide.

Das ist alles lächerlich im Vergleich dazu, wie meine Cousinen in China aufwuchsen. Nur einmal in der Woche hatten sie frei, am Sonntagnachmittag. Der Rest ihres Lebens bestand allein aus Unterricht, Vorbereiten und Nachbereiten desselben. Dass ich diesem Drill entkommen bin, verdanke ich ausgerechnet meiner Tigermutter. Nach ihrer Studienzeit in Europa hätte sie auf der Stelle einen Topjob in Shanghai oder Hongkong bekommen. Weil sie mir aber eine Kindheit in China ersparen wollte, blieb meine Mutter mit mir in Deutschland.

Asiaten sind Bildungsfanatiker, manche schreiben das dem Konfuzianismus zu, andere dem rauen Wettbewerbsklima in der Gesellschaft. Eltern arbeiten sich zu Tode und opfern all ihre Energie und Ersparnisse, um den Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen. Als Kind wird man verhätschelt und ist das Zentralgestirn der Familie. Gleichzeitig steht man den Eltern in einer Art lebenslangen Bringschuld gegenüber. Die meisten Asiaten, die ich kenne, egal ob Chinesen, Koreaner oder Vietnamesen, empfinden es ähnlich: Man ist den Eltern dankbar für die vielen Opfer, doch die hohen Erwartungen sind eine schwere Bürde.
Vor dem Abitur saß meine Mutter oft bis spät in der Nacht mit mir in der Küche und versuchte mir verzweifelt Kurvenanalyse beizubringen. Ich bin nicht Ärztin oder Anwältin geworden, wie es sie es sich für mich gewünscht hat. Mein Studium habe ich abgebrochen und mich stattdessen für einen Beruf mit katastrophalen Zukunftsaussichten entschieden.

Ich habe die Art, wie meine Mutter versucht hat, mir Leistungswillen anzutrainieren, oft als anstrengend und übertrieben empfunden. Sie ließ mich allerdings auch nie daran zweifeln, dass sie mir viel zutraut. Die Philosophie dahinter, dass Bildung die wichtigste Voraussetzung ist, um sich Möglichkeiten im Leben offen zu halten, finde ich grundrichtig. In Deutschland ist dieser Gedanke meiner Meinung nach nicht bei jedem angekommen. Ich finde nicht, dass es Kinder überfordert, wenn sie schon im Kindergarten spielerisch an Zahlen und Buchstaben herangeführt werden. Ich finde das Gejammer über die G8-Reform befremdlich, je früher die Schule wieder zu Ende ist, desto früher fängt doch das Leben in Freiheit an. Seltsam finde ich auch, wenn gute Schüler auf dem Pausenhof als Streber gebrandmarkt werden. Einige meiner früheren Schulfreunde, hochintelligent, schrieben absichtlich schlechte Noten, weil es der sozialen Norm entsprach, eine Fünf in Mathe und Physik zu haben. Als sie in der Oberstufe versuchten, in diesen Fächern noch die Kurve zu kratzen, gab es nicht mehr viel zu retten. Zum Glück gibt es in Deutschland Wartesemester und für alles einen zweiten (Bildungs-)Weg. Aber was ist prinzipiell schlecht daran, rechnen zu können?

Das Gute an meiner Tigermutter war außerdem, dass ich gegen etwas rebellieren konnte. Sie zu mehr deutscher Gelassenheit zu erziehen, war ein schwieriger Prozess, aber ich gab nicht auf. Das erwartete sie doch schließlich immer von mir. Mit der Zeit muss ich sie ziemlich mürbe geredet haben, denn nach meinem vergeigten Studium sagte sie nur: „Mach was du willst, Hauptsache du bist glücklich. Und verdienst selbst Geld. " Dafür bereue ich es inzwischen, mit 14 meinem Klavierlehrer gekündigt zu haben. In diesem Punkt wünsche ich mir, sie hätte nicht so schnell locker gelassen. 



Text: xifan-yang - Foto: codswollop / photocase.com

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