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Kein Penis mehr, nirgends

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Chatroulette war im Frühjahr 2010 für ein paar Wochen die interessanteste Website der Welt. Und dann war sie auf einmal wieder weg vom Fenster. Vor einer Woche kehrte eine relaunchte Version der Website zurück. Prominentes neues Feature: die Hintergründe lassen sich jetzt bunt gestalten. Wir haben mit Thomas Schekalla gesprochen, der im vergangenen Jahr für seine Diplomarbeit an der Folkwang Hochschule der Künste 24 Stunden auf Chatroulette verbracht hat

 Thomas, du hast für deine Diplomarbeit als Kommunikationsdesigner 24 Stunden auf Chatroulette verbracht. Hast du diesen Tag ohne größere bleibenden Schäden überstanden?
Das weiß ich noch nicht, ob ich das so unbeschadet überstanden habe, ich habe aber alles dafür getan: Für die 24 Stunden habe ich ein kleines Team zusammengestellt, bestehend aus meiner Freundin, meinem Bruder und dessen Freundin. Ich war die ganzen 24 Stunden lang wach, die anderen hatten abwechselnd die Aufgabe, mich wach zu halten. Dazu gab es an diesem sehr heißen Tag im Juli sehr viel Eis und Energydrinks.

Wie kamst du denn überhaupt auf die Idee, für deine Diplomarbeit Chatroulette zu verwenden?
Wie das bei Chatroulette so üblich ist, habe auch ich irgendwann mal Anfang letzten Jahres den Link von irgendjemandem geschickt bekommen. Da habe ich dann ab und zu draufgeschaut – mich aber nicht weiter damit beschäftigt. Zu meinem Diplom wollte ich dann etwas über das Thema Zufall machen – das war allerdings ein so komplexes Thema, dass ich mir einige potentielle Einzelthemen herausgesucht habe, von denen eines eben das Zufallsprinzip von Chatroulette war. Ich habe mich dann schlau gemacht, welche Veröffentlichungen es dazu schon gab – und habe ein paar Artikel gefunden, die alle den Tenor hatten: Chatroulette, das sind nur Penisse. Bei Youtube habe ich dann auch witzige Chatroulette-Erlebnisse gesehen. Zum Beispiel einen Musiker aus Amerika, der auf Chatroulette ein Livekonzert gegeben hat und seine Chatpartner in die Performance eingebaut hat. Ich wollte einfach sehen, was zwischen diesen Extremen liegt. Als ich mich für Chatroulette als Thema entschieden habe, war dann auch bald klar, dass ich das 24 Stunden lang machen musste, damit ich einmal sozusagen um die Welt reisen konnte.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im Uhrzeigersinn: 1:41:50 Uhr - ein fremder Vermummter; 13:19:04 Uhr - jemand, der anonym bleiben wollte und uns lieber seine Wohnung präsentierte; 4:23:00 Uhr - zwei aufgedrehte amerikanische Mädchen, die unbedingt ihre Beine im Buch haben wollten. 6:27:49 Uhr - ein Belgier in pinker Unterhose; ab da unser Maskottchen für das Projekt. 7:17:27 Uhr - James und Sasha aus Amerika, die sich über Chatroulette kennen und lieben gelernt haben und nun zusammen wohnen. Ihr Blog: wemetonchatroulette.blogspot.com;


Was genau hast du während dieser 24 Stunden gemacht? Hast du da eher wissenschaftlich gearbeitet oder dich künstlerisch darauf eingelassen?
Sowohl, als auch. Im Vorfeld habe ich geschaut, wie ich möglichst viel aus den Kontakten herauskriegen kann. Das Problem ist: als einzelner Mann wird man sehr schnell weggeklickt. Deshalb hatte ich auch die beiden Mädchen dabei, die dienten sozusagen als Lockvögel, damit wir uns auch mit den Usern unterhalten konnten. Außerdem habe ich rausgekriegt, dass die Menschen langsamer werden, wenn man ihnen Text anbietet, den sie lesen müssen.
Also habe ich meine Mac-Fernbedienung so umprogrammiert, dass ich mit einem Klick sofort eine von acht verschiedenen Fragen auf den Bildschirm spielen konnte. Ich hatte auch meinen Raum so hergerichtet, dass der Blick der Leute möglichst lange haften bleibt: wir haben eine Couch aufgestellt und dahinter ganz viele kleine Bilder aufgehängt. Und mit diesen Tricks hat es ganz gut geklappt, Gespräche zu führen. Ich habe alle Menschen, mit denen ich während der 24 Stunden Kontakt hatte, in meinem Buch dokumentiert. Das konnte ich denen allerdings fast nie sagen, weil sie so schnell weggeschaltet haben. Nur ein paar, mit denen ich längern kommuniziert habe, konnte ich darüber informieren.

Worin bestand deine Diplomarbeit?
Der Hauptteil meiner Arbeit ist ein Buch von 992 Seiten. Das gliedert sich in einen Bildteil von 880 Seiten, in dem jeder, mit dem ich verbunden war, mit Bild, Uhrzeit und Nummer verzeichnet ist. Außerdem sind darin sämtliche Chats verzeichnet. Die restlichen paar Seiten sind mit dem Theorieteil gefüllt, indem ich mit dem Thema aus der Perspektive einiger gelehrter Theoretiker genähert habe. Dazu habe ich noch eine Ausstellung gemacht. Dort habe ich Plakate aufgestellt, auf denen noch einmal alle Personen drauf waren, um die Masse der 1654 Menschen deutlich zu machen, die ich gesehen habe. Außerdem habe ich digitale Bilderrahmen aufgehängt, in denen die Menschen im Fünf-Sekunden-Takt durchliefen, damit man eine Vorstellung davon bekommen konnte, wie die Kontakte so abliefen. Das ist etwas langsamer als der Durchschnitt – die normale Verbindung auf Chatroulette dauert drei Sekunden, dann wird man weiter geklickt. Außerdem lief noch mein Video und ich hatte natürlich auch einen Laptop aufgestellt, damit die Gäste selbst einmal auf Chatroulette gehen konnten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Vierermannschaft Linda, Svenja, Thomas und Mycha gegen Ende des 24-Stunden-Chatroulette-Marathon.

Waren die Leute auf Chatroulette bereit, mit dir zu reden?
Es ging so... Am Ende dieses Tages haben wir alle das Resümee gezogen, dass der eigentliche Reiz von Chatroulette der Nächste ist. Es geht nicht darum, jemanden zu finden – der Weg dorthin ist das Spannende. Es gab da auf Chatroulette die beiden Extreme der witzigen Leute, die Aktionen gemacht haben und das andere Extrem der Genitalien. Die ganz große Masse dazwischen ist aber nun mal langweilig und gelangweilt.

Ein Aspekt deiner Arbeit behandelte auch den fragwürdigen Umgang der Menschen mit ihrer Privatsphäre.
Zu der Zeit hatte Google gerade angekündigt, dass sie demnächst mit Streetview in den 20 größten deutschen Städten online gehen würden und alle haben sich irrsinnig aufgeregt. Gleichzeitig bin ich ohne irgendwelche Probleme auf Chatroulette einfach so in die Wohnzimmer genau dieser Leute reingekommen. Selbst wenn die ihre Gesichter verdeckt haben, gab es immer noch genug zu sehen, um Rückschlüsse auf ihr Leben zu ziehen. Viele sind mit dem Medium extrem unvorsichtig umgegangen.

Hast du eine Idee, warum die ganze Welt ein paar Wochen Anfang des letzten Jahres so fasziniert war mit dieser Website?
Weil es irgendwie neu und so extrem rudimentär war. Im letzten Jahr waren ja auch all die Netzwerke, wie Facebook, Myspace oder Xing ein großes Thema, bei denen es immer darauf ankommt, so viele Infos wie möglich über die Menschen zu dokumentieren, damit man sie möglichst gut vernetzen kann. Und dann kam auf einmal eine Website, wo man per Video mit wildfremden Menschen verbunden war. Man musste sich nicht anmelden, man musste nichts über sich preisgeben und konnte einfach so kommunizieren.

Und warum war der Hype dann auf einmal vorbei?
Ich denke, dieser Niedergang hatte verschiedene Gründe. Zum einen haben sehr schnell sehr viele Werbeagentur die Seite für sich genutzt und da virale Werbevideos eingespielt – zum Beispiel für den Film „Der letzte Exorzismus". Dazu kam auch, dass die Website mehrmals komplett offline gegangen ist. Mal für einen Tag, dann für eine Woche. Dann wollten sie eine Software einbauen, die die Penisse mithilfe von Gesichtserkennungs verhindert. Das funktionierte so, dass man sein Gegenüber zunächst nur unscharf sehen konnte und sich das nur zu einem scharfen Bild aufbaute, wenn da auch ein Gesicht war. Man konnte als noch Penisse sehen, allerdings unscharfe. Das alles verlangsamte die Sache unheimlich und hat die Spannung vom Anfang genommen.

Wie war das Verhältnis von Männern und Frauen?
Das habe ich alles genau aufgeschlüsselt: 68 Prozent aller Nutzer waren männlich, acht Prozent weiblich, der verbliebene Rest spaltete sich auf in Menschengruppen und Werbungs-Videos. Insgesamt 23 Prozent der Nutzer waren nackt. Von den Männern hatten 31 Prozent die Hosen runter, bei den Frauen immerhin 17 Prozent.


Was hat dein Professor von der Arbeit eigentlich gehalten?
Man kann sagen, er war begeistert – ich habe für die Arbeit auch eine 1,0 gekriegt.


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Diplomarbeit: "Hello, nice to meet you. - 24 Stunden Chatroulette, 1654 Fremde - Dokumentation einer virtuellen Reise rund um den Globus" von Thomas Schekalla. Betreut von Prof. Hans Günter Schmitz und Dr. Bernhard Uske, Folkwang Universität der Künste, Essen.

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