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Brief an die Chaos-Königin

Text: porn_to_be_wild

Süße, 



nachdem ich mich vor kurzem seit langer Zeit einmal wieder hingesetzt habe, um einen Brief, oder zumindest „eine Art Brief“ zu formulieren, habe ich beschlossen, dass auch Du einen bekommen sollst. Verdient hast Du ihn Dir. Definitiv. Nach mehr als 18 Jahren Freundschaft. Wir hatten diesen Sommer eigentlich vorgehabt, zusammen mit dem Auto irgendwo hinzufahren, weil unsere Freundschaft ja jetzt volljährig ist und „einen Führerschein hat“. Daraus wurde leider nichts, sorry… war aber nicht nur meine Schuld, Fräulein „ich-bin-ja-soooo-cosmopolitisch“ ;-)



Ich glaube ganz fest daran, dass wir es schaffen. Ostern vielleicht. Oder wann auch immer. Wir haben’s nicht eilig.



Dieses war das erste Silvester seit Jahren, das ich ohne Dich verbracht habe. Irgendwie war es komisch. Zumindest haben mir die „soll-ich-jetzt-noch-nach-Zürich-fahren-oder-nicht-was-für-ein-Arschloch“ Diskussionen ein wenig gefehlt. Und die stundenlangen Milchkaffee-Frühstücks-Sessions. Und Deine Klamotten und Haare überall. Mir hat gefehlt, dass Du mir jede Nacht die Bettdecke geklaut hast. Und Dein Reden im Schlaf. „Hallo, ich bin’s!“ oder auch „Boah ha’m die viel Bier!!!“ Im Schlaf wohlgemerkt.



In diesem Brief werden viele „weißt Du noch“s stehen. Und manche vergessen geglaubte Episode.



Weißt Du noch, damals, auf der wind- und liebeskummerumwehten Insel, als wir uns kennenlernten? Ich kann mich noch an Dein Tote-Hosen T-Shirt erinnern. Und an das Schwein am Toilettenabzug. An die Aktion nachts am Strand – „uns war ja sooooooo schlecht, wir wollten nur frische Luft schnappen…“ Hat uns natürlich kein Schwein geglaubt. Nicht mal das Toilettenschwein. Birgit, die dicke Birgit, die immer Nachts aufs Klo musste. Erinnerst Du Dich noch an den schönen Tobi, und an Jack Daniels, den schönsten Mann der Insel? ;-)
Mit 13 glaubt man noch, dass Liebeskummer ewig währt. Und Ferienlager-Freundschaften, vor allem wenn sie einen gemeinsamen Alltag als Basis entbehren, sind eigentlich nicht zum Dauern bestimmt. Doch allen Kilometern zum trotz, sind wir heute da wo wir sind. Zuerst nur in verschiedenen Landkreisen. Dann in verschiedenen Bundesländern. Jetzt in verschiedenen Ländern und gefühlt die Hälfte der Zeit sogar auf verschiedenen Kontinenten. Macht aber nix. Wir beziehen unsere Nähe aus irgendeiner anderen, geheimnisvollen Quelle.



Weißt Du noch, der Sommer danach? Wir hatten uns lange nicht gesehen. Und Deine ersten Worte waren nicht „Hallo, wie schöööön!!!!“ Sondern nur ein entsetztes „Was ist mit Deinen Haaren los?? Wo sind Deine Locken?“ Mit Haaren hattest Du’s ja eh‘ immer. Ich, mit dem Handtuch um die Schultern, ausgeliefert. Du mit den Gummihandschuhen und diversen Fläschchen am Werkeln. Ich so. „Du in der Gebrauchsanweisung steht, dass man das keinesfalls mit anderen Farben mischen darf.“ Du so: „Zu spät. Schon drauf.“ Was hatten wir Angst dass es grün wird, oder sie ausfallen. ;-) Oder als ich Dir mal in Deiner Hippie-Phase die Haare gefärbt habe und dabei in so einen Henna-Brösel getappt bin. Ich sah wochenlang aus, als hätte ich ne fiese Hautkrankheit an der Fußsohle.



Damals, auf der Heide, als Du (nach einer Flasche Apfelkorn und einem Joint) unbedingt zum Mars fliegen wolltest. In der Nacht hab‘ ich, während Du pinkeln warst, heimlich auf den Golfplatz gekotzt. Das hab‘ ich Dir glaub‘ ich nie erzählt.



Noch heute wenn ich irgendwo diesen typischen Flohmarkt-Geruch wahrnehme, Räucherstäbchen und Vintage-Klamotten, muss ich an Dich und unsere zahllosen Samstage auf den Flohmärkten denken.



Dass Du es geschafft hast, die Konzertkarten zu Hause liegen zu lassen, und wir das erst nach 100 km Fahrt gemerkt haben, ist mir eben auch wieder eingefallen. Überhaupt, Du bist ein Riesen-Schussel. Und eine alte Trödel-Tante. Ich glaube ich habe Jahre damit verbracht, auf Dich zu warten. Und bin wahrscheinlich die ganze Zeit hektisch von einem Fuß auf den anderen getrippelt. Und lieb hab‘ ich Dich trotzdem. Nicht deswegen, nein, Deine Unpünktlichkeit ist für mich KEINE Deiner vielen liebenswerten Eigenschaften, aber trotzdem. Bei uns war ich immer Bert. Und Du immer Ernie. Irgendwie hattest Du immer Glück. Wenn Du zu spät dran warst, war’s die Straßenbahn auch.



Du hast es geschafft, an Deinem eigenen Abiball die Ersatz-Schuhe zu Hause zu vergessen und bist einfach barfuß auf die Bühne gegangen. Und was war ich froh, dass Du mir auf meinem, dieser drögen Veranstaltung, den Rücken gestärkt und ihn gemeinsam mit mir gegen 23 Uhr vorzeitig verlassen hast – um auf einer anderen Party das Leben zu feiern.



Überhaupt, das Leben feiern. Das haben wir oft getan. Am besten in Erinnerung geblieben sind mir die Partys in Eurer WG in der Körnerstraße. Und nicht nur die Partys. Auch der dazugehörige Morgen danach. In der völlig zerstörten Küche, inmitten randvoller Aschenbecher und schmutziger Gläser. Die Luft zum Schneiden dick. Du hast immer erstmal die Balkontür aufgerissen und den Tag hereingelassen. Und Kaffe gekocht. Da saßen wir dann, im Schlafanzug, inmitten des Chaos, verkatert, versifft, glücklich. Haben „Die Schlampen sind müde“ angehört, jedesmal. Und uns erstmal ne Zigarette angesteckt.



Obwohl wir immer so weit auseinander lebten, und ständig pleite waren, haben wir immer Mittel und Wege gefunden einander zu sehen. Mit 4 Albanern im Fiat Uno gen Osten. Oder auch mal mit nem schnuckeligen Unternehmensberater im BMW ;-). Mit dem Nachtzug gen Süden. Später dann auch mal ganz fesch nur für eine Nacht mit dem Flieger. Um mit Dir zu feiern. 18 Uhr hin, morgens direkt von der Party aus zum Flughafen, mit dem ersten Flug zurück. Betrunken. Wir beide haben noch tagelang meine Schuhe gesucht, Du dort, ich hier. Ich war mir so sicher, dass ich sie in meinem Suff in der Galerie vergessen hatte.
Dabei hatte ich sie nach meiner Ankunft, immer noch betrunken, gleich ordnungsgemäß im Umzugskarton „Highheels“ verstaut. Da war ich mal Ernie… Naja, ein bisschen. ;-)



Weißt Du noch, wie wir mit dem Wochenend-Ticket nach Berlin gefahren sind? Was haben wir da nicht alles erlebt. Gelernt, dass ein Frosta-Auto kein Nachtbus ist. Und dass man betrunkenen Amerikanern nicht weiter über den Weg trauen darf, als man spucken kann. Wenn man so schlecht Stadtpläne lesen kann wie wir beide, landet man eigentlich nie da wo man hinwill. Aber irgendwie sind wir immer da gelandet wo wir hinsollten, irgendwie. „Wie kommen wir denn am schnellsten zum Friedrichstadtpalast?“ – „Üben, üben, üben tät ick mal sagen.“  Wir haben kein einziges Museum von innen gesehen – irgendwie hatten die immer schon zu wenn wir dann mal aus den Federn gekrabbelt waren. Was uns nicht davon abhielt, „der Schüssel“ mehrfach einen Besuch abzustatten nur um zu versuchen hineinzuklettern. Natürlich haben wir’s nie geschafft, nicht in DEN Schuhen.



Deine Rechthaberei - „Ich bin nicht rechthaberisch – ich hab‘ einfach immer recht!“ – und Deine Schadenfreude. Das sind auch zwei so spezifische kleine Eigenheiten. Weißt Du noch als mir die Espressomaschine um die Ohren geflogen ist, und ich und die gesamte Küche unter Kaffeesatz standen? Ich hab‘ laut Scheiße geschrien und um Hilfe gerufen. Du hast nur kurz den Kopf zur Küchentür hineingestreckt und bist dann wieder verschwunden. Ich dachte „aaaaaaaah, kluges Kind, sie holt Putzlappen.“ Nix da, Pustekuchen, ne Kamera hast Du geholt. Kleines Miststück ;-)



Du schaffst es immer wieder, das Beste aus einer Situation zu machen. Nach einer richtigen Kacktrennung auch noch in einen Wolkenbruch geraten. Ich am Nölen mal wieder. "Ich hasse das Gefühl, wenn mir der Regen langsam in die Augen läuft. Wenn erst nur einzelne Tropfen in meinen Wimpern hängen und dann langsam und unaufhörlich ein kleiner Wasserfall draus wird. Ausserdem sind wir hier nicht beim Wet-T-Shirt-Contest! Das Scheiß-Ding klebt und wird total durchsichtig!"
„Sieh’s doch einfach als symbolische Reinigung… und jetzt hör auf zu jammern, zieh Dich aus und hilf mir, die Klamotten um meine Kamera zu wickeln.“



Später haben wir dann (kindisch, ich weiß…) mit seiner Zahnbürste das Klo geputzt. Du meintest das gehört sich so, hätte was Kathartisches ;-) Und im Licht des offenen Kühlschranks in meiner Küche auf dem Boden gesessen und Weißwein aus der Flasche getrunken. Was für ein grandioser Abend.



Ich könnte noch Seite um Seite füllen. Mit diesen „weißt-Du-noch“s. Und dennoch könnte ich nie wirklich zu Papier bringen, warum ich Dich so liebe. Vielleicht weil Du ehrlich und bockig und loyal bist. Weil Du ein Herz aus Gold hast, eingeschlossen in einem sturen kleinen Körper. Weil Du so irrsinnig und vielfältig begabt bist. Weil Du zwar meinen 30. Geburtstag vergessen hast, aber trotzdem wenn’s brennt immer für mich da bist. Weil wir gemeinsam erwachsen geworden sind. Uns sehr entwickelt haben, in ganz verschiedene Richtungen, und uns das trotzdem nicht zu trennen vermag. Weil wir so verschieden sind und dennoch das Gleiche wollen. Vielleicht muss man Liebe auch nicht erklären. Ich bin froh dass es Dich gibt.



 



 



 

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