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Samstagnachmittag. Reden über Rio Reiser

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Nadine, dein Onkel war der Gitarrist von Ton Steine Scherben. Bist du schon als Kind mit der Band in Berührung gekommen oder haben dich deine Eltern eher vor den wilden Musikern gewarnt?
Nein (lacht). Meine Mutter ist ja nun mal die Schwester meines Onkels, sie wusste, dass er Musiker war, aber anfangs nicht, wie bekannt die Scherben eigentlich waren. Aber mein Vater war dann Scherben-Fan. Deswegen waren wir mit der Familie auch sehr oft in Fresenhagen, auf diesem Bauernhof, wo die Band hingezogen war. Ich bin also schon mit Ton Steine Scherben aufgewachsen. Wie war es denn für dich als Kind in diesen Kreisen? An welche Erlebnisse erinnerst du dich besonders?
Ich habe sehr schöne Erinnerungen an diese Zeit. Es war ein großer Hof mit unglaublich vielen Tieren. Und es waren immer viele unterschiedliche Leute da, auch viele andere Kinder. Es gab ein paar Songs von den Scherben, die für uns Kinder zu Lieblingsliedern wurden. Zum Beispiel Der Turm stürzt ein. Wir haben nicht so richtig begriffen, worum es eigentlich ging, aber wir haben es immer mitgesungen. Und dann gab es ja noch Hörspiele wie Herr Fresssack und die Bremer Stadtmusikanten, bei denen die Scherben mitgemacht haben. So was fanden wir auch gut. Und wie war die Verbindung zur Band in deiner Jugend? Gibt es bestimmte Scherben-Songs, die du damit verbindest? Schon mal zu Halt dich an deiner Liebe fest geknutscht?
Es gibt keine speziellen Songs, die ich mit meiner Jugend verbinde. Aber ich hatte natürlich schon damals Lieblingssongs von den Scherben, die jetzt auch auf meinem Album gelandet sind. In der Schule habe ich festgestellt, dass einige die Scherben auch kannten. Ich fand es spannend, dass sich Leute in meinem Alter für diese Musik interessierten. Für mich war das ja immer nur mein Onkel, der machte eben Musik. Wofür stehen Ton Steine Scherben heute für dich?
Ton Steine Scherben werden ja oft als Protest-Rockgruppe mit politischen Texten gesehen. Das waren sie sicherlich auch, aber als ich mich intensiver mit den Hintergründen beschäftigt habe, habe ich gespürt, dass man die Band eben nicht so klischeemäßig einordnen kann. Den Scherben das weiß ich von meinem Onkel und auch von Rio Reiser ging es um bestimmte Grundwerte, die alle betreffen. Sie haben Musik nicht mit dem Anspruch gemacht, nur eine kleine Gruppe von Leuten zu befriedigen oder denen zu entsprechen. Sie wollten für alle Menschen Musik machen und was verändern in der Welt. Das finde ich so faszinierend. In den Texten geht es um Liebe, Träume, Poesie, Frieden. Und natürlich um Hoffnung. Um die Hoffnung, dass man das Leben lebenswerter machen kann als es ist, und dabei die Probleme aufdeckt, die es gibt. Das sind nicht nur politische Probleme, sondern auch gesellschaftliche und soziale, die jeden betreffen. Deswegen sind diese Texte auch zeitlos. Wenn man in unserer Gesellschaft heute in die Gesichter der Leute schaut, spürt man, dass ganz vieles nicht stimmt und viele Menschen einfach nicht glücklich sind. Dann kommt diese Frage nach dem Warum auf, die sich damals auch die Scherben gestellt haben. Elf Scherben-Songs hast du nun für ein eigenes Album interpretiert. Du bist Schauspielerin. Hast du dich auf das Singen vorbereitet wie auf eine Rolle?
Nicht bewusst, aber bestimmte Vorgehensweisen hat man wahrscheinlich intus. Ich weiß nicht, wie das andere Sänger machen, aber wenn ich einen Text vor mir habe, beschäftige ich mich schon sehr mit den einzelnen Worten und auch mit deren Klang. Es geht ja darum, einen Text ehrlich und direkt zu präsentieren und zu transportieren. Das habe ich versucht. Rio kommt ja auch ein bisschen aus der Theaterarbeit, und ich finde, das merkt man auch, wenn man ihn singen hört. Hast du dir etwas bei Rio Reiser abgucken können künstlerisch wie persönlich?
Was mich total beeindruckt an Rio - und was auch mein Ziel ist, als Schauspielerin wie als Sängerin ist seine Authentizität. Ich finde, dass es beim Singen nicht soviel auf Virtuosität ankommt. Das Wichtigste ist, dass die Emotionen rüberkommen. Davon lerne ich jedes Mal beim Zuhören. Wenn Rio etwas gesagt oder gesungen hat, dann meinte er das auch genau so. Ich weiß, dass er sehr viel mit den Texten gearbeitet hat. Und wenn ich mal einen Schritt weitergehe und selber Texte schreibe, dann würde ich auch immer versuchen, es auf diese Art und Weise zu tun. Schauen, dass das, was ich zu sagen habe, auch wirklich mit mir verbunden ist und alles Überflüssige weggelassen. Rio hat sich immer auf die wichtigen Punkte beschränkt. Rio Reiser war hochgradig politisch. Willst du das mit diesem Album auch ein Stück weit sein?
Ich will politisch sein. Ich finde, das sollte jeder Mensch sein. Ich möchte aber nicht klischeehaft irgendeiner Richtung zugeordnet werden. Die Sachen, über die ich singe, haben für mich immer noch die gleiche Bedeutung wie damals. Was mir am wichtigsten ist, sind diese menschlichen Grundwerte, und die betreffen natürlich genauso den Bereich Politik. Für mich war es zum Beispiel etwas ganz Besonders, Songs wie Mein Name ist Mensch zu singen. Mein Name ist Mensch - diese extreme Identifikation: Ich bin Mensch, was heißt das eigentlich! Ich hätte nicht vermutet, dass mich ein solcher Satz mal so stark ansprechen würde.  Ziemlich klare politische Aussagen stecken dann in der Hausbesetzerhymne Rauch-Haus-Song, in dem die Polizei genauso hart angegangen wird wie die CDU und die Bild-Zeitung. Ist das nicht komisch, so was zu singen? So als eher bürgerliche Münchnerin?
So bürgerlich und so münchnerisch bin ich gar nicht. Und ich kann mir diese ganze Situation damals total gut vorstellen. Wenn man etwas verändern möchte, hat man ja oft das Bedürfnis, auch mal rauszugehen auf die Straße, um irgendwas zu tun. Da ist dieser Wunsch, aktiv zu werden. Deswegen kann ich diesen Song  gut nachvollziehen. Wir haben ihn jetzt leicht jazzig arrangiert, wodurch er etwas Nostalgisches bekommt und man den Zeitsprung bemerkt. Der echte Rauch-Haus-Song ist ja ein Protestsong zum Mitsingen, dazu fordert er auch auf. Generell finde ich es spannend, sich mit diesem Teil der Geschichte auseinanderzusetzen und sich darüber Gedanken zu machen. Daraus kann man bestimmte Dinge lernen, deshalb haben wir ihn auch mit auf das Album genommen. Und weil er Spaß macht. Hat dir dein Onkel viele Geschichten zu Songs wie diesem erzählt, oder hat er dich da mehr dir selbst überlassen?
Er erzählt immer viel über früher, wenn man ihn trifft. Er hat wahnsinnig viele Geschichten über die Leute, die er getroffen hat und die damals dabei waren oder bestimmte Situationen. Aber bei der Musik war es so, dass ich sie mit Bassist Volker Schwanke zusammen bearbeitet  und meinem Onkel später vorgespielt habe. Sie hat ihm gefallen. Ich glaube, es war schön für ihn, dass er jetzt mit jemandem aus seiner Familie arbeiten konnte. Es gab ja schon viele Leute, die die Scherben gecovert  haben, und ihm hat auch die Art und Weise gefallen, wie wir es gemacht haben. Es ist ja kein glattgebügelter Popsound geworden. Wir haben einfach mit akustischen Instrumenten drauflos gespielt und alle möglichen Stile vermischt. Das haben die Scherben ja auch so gemacht. Warum hast du "Samstagnachmittag" als Titelsong für dein Album gewählt?
Der Song drückt ja aus, dass irgendwas gerade entsteht. Man weiß noch nicht so genau was, aber es gibt diese drückende Hitze, und alles ist am Brodeln. Dieses Gefühl habe ich generell in der Zeit, in der ich lebe. Und diese CD ist auch eine Art Beginn für mich, das passt ganz gut zu Samstag Nachmittag.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Nadine bei ihrem Onkel im Studio in Fresenhagen.   "Ich bin noch nicht voll, aber mein Glas ist leer, und ich hol mir n neues, und ich träum vom Meer", heißt es einmal in Samstagachmittag. Kennst Du dieses durchzechte Streunerleben, das in den Scherben-Songs so oft beschrieben wird, aus eigener Erfahrung? Oder sind dir Streuner einfach nur sympathisch?
So ein Streunerleben kenne ich zum Beispiel von meiner zweieinhalbmonatigen  Theatertournee. Ich weiß auch nicht, ob man es Streunerleben nennen kann, aber mir gefällt es, wenn man sein Leben lebt, wie man es leben möchte, so wie Rio und Lanrue, und Risiken eingeht, nicht soviel Sicherheitsdenken. Ich finde es gut, wenn man versucht, sein Leben intensiv zu leben. Da geht es dann nicht so sehr um materialistische Dinge, sondern um ein bestimmtes intensives Gefühl fürs Leben. Im Text von Durch die Wüste werden dann ganz bestimmte gesellschaftliche Situationen angeprangert: Ich komme aus dem Land der vergifteten Straßen, wo man den Tag verkaufen muss, um sorglos zu schlafen, wo das Leben schneller ist als ein Herz schlagen kann und tausend Lügner sprechen, bevor einer die Wahrheit sagen kann. Auch dieses Gefühl habe ich ganz oft. Zum Beispiel, wenn ich mir politische Talkshows ansehe. Da geht es immer nur um die Frage: Wer hat Recht? Nie um Lösungen und nie werden Dialoge geführt. Man kommt sich oft richtig veräppelt vor, deshalb ja auch diese große Politikverdrossenheit. Oder wenn ich Menschen treffe, die zu sehr am Materialismus orientiert sind. Denen es wichtig ist, welchen gesellschaftlich anerkannten Beruf und wie viel Geld man hat. Viele schuften für die äußere Schönheit, wer arbeitet schon an seiner inneren? Wobei das intensive Leben bei Rio Reiser ja auch eine Art Selbstzerstörung bedeutete, oder?
Nein, intensiv Leben heißt für mich zum Beispiel auch nicht, viele Drogen oder Alkohol zu nehmen. Was seine Selbstzerstörung betrifft, weiß ich, dass Rio sehr unglücklich war, als er zu Sony gewechselt ist und dieses Independent-Leben als Musiker aufgegeben hat. Auf einmal wurde ihm als Künstler vorgeschrieben, was er zu tun und zu lassen hat und welche Musiker er benutzen darf, wie es bei großen Plattenfirmen ja manchmal der Fall ist. Ich glaube nicht, dass es der Wunsch nach einem intensiven Leben war, der zu seinem Tod geführt hat. Sondern diese Kombination. Er ist irgendwie in diese Maschinerie reingeraten, die eigentlich nicht zu ihm als Künstler gepasst hat. Hast du Rio Reiser auch als traurig empfunden, wenn du ihn getroffen hast? Hast du das als Kind bemerkt?
Er war ein ziemlich introvertierter Typ, eher zurückgezogen. Die meisten Leute auf dem Hof waren viel lauter als er. Und wenn man so sensibel ist wie Rio, und sich die ganzen Probleme unserer Welt anschaut, dann gehört auch eine gewisse Melancholie dazu. Aber was ihn trotzdem ausgezeichnet hat und weshalb er auch Musik gemacht hat, war eben diese Hoffnung. Lanrue und Rio hatten immer die Hoffnung, etwas verändern zu können, auch für sich selber. Sie waren ja keine Gurus, die alles wussten, sondern auch nur Menschen auf der Suche danach, was Menschsein bedeutet.

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Illustration: Julia Schubert

Samstagnachmittag von Nadine Germann erscheint am 14.01. auf Goldbek/Indigo.  

Text: erik-brandt-hoege - Fotos: Doris Katharina Künster

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