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Sexkritik: Ich will niemals geleakt werden

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Mal angenommen, Wikileaks würde ausnahmsweise mal nicht die geheimen Akten amerikanischer Diplomaten und hochrangiger Regierungsmitglieder veröffentlichen, sondern auf einmal lauter Daten, in denen es um mein Liebesleben geht. Nur mal angenommen, darin würden alle Gedanken stehen, die sich mein Freund jemals im Laufe unserer Beziehung über mich und den Stand unserer Beziehung gemacht hat. Und angenommen, diese Information würde mir ohne weiteren Kommentar zugeschickt, einfach nur, weil ein gut meinender Mensch in meinem Bekanntenkreis der Meinung ist, dass Geheimnisse einer Beziehung nicht gut tun und sich dazu verpflichtet fühlt, mich aufzuklären.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ich bin mir ziemlich sicher, dass damit das Ende meiner Beziehung eingeläutet wäre. Und vermutlich der Beginn einer ganz großen Depression für mich. Denn ich glaube, ich könnte es nur schwer aushalten zu wissen, was mein Freund jeden Tag, 24 Stunden lang, in jeder Situation und jeder emotionalen Verfassung über mich und unsere Beziehung denkt. Wenn es auch nur annähernd dem entspricht, was so durch meinen Kopf wandert, dann finden sich in den vielen rosaroten Gedanken auch einige, die ins Grünlichgelbschwarze gehen. Und das wäre ja nicht einmal ein Wunder. Schließlich ist jeder Mensch zuweilen garstig gestimmt und denkt dann auch über geliebte Menschen nicht ganz so geliebte Dinge. Und in jeder Beziehung gibt es Streitpunkte, die immer wieder zur erbitterten Auseinandersetzung oder zumindest zu einer zivilisierten Diskussion führen. Und manchmal denkt man vielleicht sogar einfach so an einem Sonntagabend vor der Glotze, dass der Mensch da in der anderen Ecke des Sofas irgendwie auch nicht mehr das ist, was er zu Beginn der Beziehung war. Und dann geht man gemeinsam ins Bett, schläft einmal drüber und wacht am nächsten Morgen bestens gelaunt wieder auf und fragt sich selbst, was um Himmels willen eigentlich am Abend zuvor mit einem los war, dass man so gemein über einen so geliebten Menschen dachte.  Und dann gibt es ja auch noch  all die Anderen. All die attraktiven, lustigen, netten, sexy Menschen, mit denen man vielleicht täglich zu tun hat und gerne anschaut und womöglich gar in sein erotisches Nachtgebet einschließt. Kann gut sein, dass mein Freund so eine spezielle Kollegin hat. Oder eine Nachrichtensprecherin, oder Supermarkt-Kassiererin, die ihn ganz wuschig macht. Ich. Will. Davon. Nichts. Wissen.
Ich will vor diesem Wissen geschützt sein. Und ich glaube tatsächlich, dass ein Teil des Beziehungsvertrags zwischen zwei Menschen mit einigermaßen durchschnittlichen Treue-Vorstellungen auch darin besteht, dass man sich gewisse Gedanken erspart. Immer vorausgesetzt, man ist sich treu, vorausgesetzt, diese Gedanken gefährden nicht das Grundgerüst der Beziehung und vorausgesetzt, es macht den Denker nicht krank, sie für sich zu behalten.
Vielleicht entspricht am Ende das Bild, das ich mir von unserer Beziehung mache, gar nicht dem, das mein Freund hat. Vielleicht entspricht meine Vorstellung vom Zustand unserer Beziehung nicht einmal der Wahrheit. Aber wenn die Wahrheit nur durch schonungslose und ungefilterte Ehrlichkeit ohne Rücksicht auf die Gefühle der Beteiligten zu bekommen ist, dann verzichte ich dankend auf sie.  

Ich finde übrigens, dass dieses Stillhalteabkommen für alle zwischenmenschlichen Beziehungen gültig sein sollte. Auch für bilaterale.


Text: penni-dreyer - Foto: kallejipp / photocase.com

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