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Polarnacht-Kolumne: Der Tunnel am Ende des Lichts

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Woche 2 Temperatur: von +4 bis -9°C, Tendenz sinkend Schneehöhe: 0 - 20 cm Stimmung: durchwachsen Aus dem Blickfeld geschafftes Gerümpel des Vermieters: 4 Kisten, 3 große Plastiktüten, Leergut im Wert von ca. 10 Euro

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ein verlassenes Haus am Strand unterhalb meines neuen Zuhauses.
So, die Sonne ist weg. Zwei Monate werde ich nun in einer Abfolge aus kurzer Dämmerung und Nacht verbringen. Wie geht man mit dieser Zeit um? Eine Mischung von Erfahrung aus meinen fünf Wintern mit je drei bis fünf Stunden Tageslicht, Berichten, Gerüchten und sonstigem ungefährlichem Halbwissen ergibt folgende Optionen: Winterschlaf
  Wie es geht: Mühsam blinzeln, auf die Uhr sehen, missbilligend knurren und sich wieder in die Decke kuscheln. Einfach dem Drang nachgeben, nur das Allernötigste zu tun und sich ansonsten ins Bett zu verkriechen. Meistens muss man dabei ärgerlicherweise noch ein paar Stunden am Tag so tun, als würde man arbeiten oder studieren. Dazu ist es von Vorteil, wenn man sich in sonnigeren Zeiten schon einen gut eingestellten geistigen Autopiloten angeeignet hat. Was es bringt: Den Winter rum, hoffentlich. Mit einer solchen Einstellung würde ich aber leider schon die Frühjahrsmüdigkeit kommen sehen, und im Sommer würde ich mich dann sicher erst mal von dem ganzen Streß erholen müssen, bevor ich im Herbst wieder schwermütig werden würde. Was es kostet: Potentielles Einkommen und soziale Kontakte. Mit Vorsicht zu genießen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Meine Höhle.
Arbeitswut
Wie es geht: Flucht nach vorn! Da es draußen sowieso dunkel ist, kann ich getrost die Tage am Schreibtisch oder in der Bibliothek verbringen und mich in meine Arbeit stürzen. Was es bringt: Ablenkung, Produktivität und Stolz. Seht her, ich bin nicht nutzlos! Ich leiste etwas. Ich mache das Beste daraus. Die Sonne kann mir gestohlen bleiben, drinnen gibt es sowieso nur Kunstlicht. Was es kostet: Überwindung und gegebenenfalls Nerven. Sollte der Winter und somit die Arbeitswut zu hart werden, würde ich direkt mit einem Burnout-Syndrom ins Frühjahr starten. Ebenfalls mit Vorsicht zu genießen.   Saufen Wie es geht: Weiß jeder, vor allem hier im Norden und nahe der russischen Grenze.  Was es bringt: Weiß auch jeder - verlockenden Eskapismus. Man entkommt seinen Problemen, bis man wieder nüchtern wird und dann noch mehr davon hat. Ich persönlich hatte noch nie den Eindruck, dass es das wert ist. Was es kostet: Unsummen an norwegischen Kronen, je nach Pegel auch Würde und ggfs. Schneidezähne. Mich würde es außerdem Überwindung kosten, mehr als ein Glas pro Abend von irgendetwas Alkoholischem zu trinken. Abgelehnt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

"Soll ich dir mal meine Alkoholsammlung zeigen?"

  Solarium
Wie es geht: Man macht sich nackig und legt sich in eine Röhre, wo man dann mithilfe von UV-Licht gleichmäßig gebacken wird, bis alles knusprig braun ist. Was es bringt: Einen Hauch von Sommer und vorzeitiger Hautalterung. Was es kostet: Einen Batzen Geld, und meine durch den arktischen Sommer hinübergerettete und durch das konsequente Meiden von Ländern mit Temperaturrekorden über 25 Grad sorgfältig gepflegte vornehme Blässe. Überflüssig.   Erschießen Wie es geht: Eines der zahlreich vorhandenen Jagdgewehre schnappen und los. Was es bringt: Man sieht keine Dunkelheit mehr. Ich müsste auch nie wieder wild gestikulierend dem arschigen Busfahrer übers Glatteis hinterherstolpern, weil er keine Lust auf den kleinen Umweg zu meiner Haltestelle hatte. Was es kostet: Man sieht auch sonst nichts mehr. Ich könnte auch nie wieder von dem hübschen jungen Busfahrer schüchtern lächelnd begrüßt werden. Abgelehnt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wenn der Tag draußen nicht mehr lang und hell genug ist, springt diese Lampe ein.    Lichttherapie
Wie es geht: Im Dunkeln produziert der Körper verstärkt Melatonin, die Spassbremse unter den Hormonen. Nun halten wir uns aber etwa eine halbe Stunde täglich eine sehr helle Lampe ins Gesicht, die kein UV-Licht, sondern das sichtbare Tageslichtspektrum ausstrahlt. Die Lampe tut also so, als sei sie die Sonne. Die Netzhaut fällt darauf rein und meldet dem Gehirn "Das passt schon so, wir brauchen dein Melatonin jetzt nicht". Was es bringt: Sonne ins Herz! Ich besitze eine solche Lampe noch aus südlicheren Breitengraden und merke ab Oktober an meiner weinerlichen Stimmung, wenn ich sie ein paar Tage lang nicht benutzt habe. Außerdem kann ich sonnig beleuchtet morgens besser aufstehen, um dann tagsüber richtig wach zu sein und nachts gut schlafen zu können. Was es kostet: Eine Lichttherapie-Lampe ist mit meist mindestens 100 Euro (oder wesentlich mehr, wenn man sie in Norwegen kauft) die größte Investition gegen die Dunkelheit, aber wahrscheinlich auch die effektivste. Sehr empfehlenswert.
Vitamin D  Wie es geht: Ab in den Supermarkt oder die Apotheke, Kapseln schlucken, Zuckeraustauschstoff kauen oder Fischöl runterwürgen. Oder reich sein und jeden Tag Lachs essen. Was es bringt: Gleicht den Mangel an Vitamin D aus, der dadurch entsteht, daß sich die Haut nicht mehr mithilfe von Sonnenlicht ihr eigenes brauen kann. Amerikanische Studien haben herausgefunden und so weiter, und ich habe auch selbst das Gefühl, dass es mir damit besser geht. Außerdem stärkt es die Abwehrkräfte und soll allen möglichen Krankheiten vorbeugen. Was es kostet: Ist ganz erschwinglich und hat in normalen Mengen keine Nebenwirkungen. Sehr empfehlenswert.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im Café nach einer kleinen Bergtour.   Freunde
 Wie es geht: Rausgehen und lächeln. Einen interessanten Vortrag besuchen und danach mit Leuten ins Gespräch kommen. Sich so lange am Meer rumtreiben, bis der nette Husky-Mann aus seinem Häuschen kommt und einen auf einen Tee einlädt. Die gesammelten Telefonnummern bei Bedarf benutzen. Was es bringt: Ich weiß natürlich, dass es gut tut, draußen aktiv zu sein, womöglich sogar am Wochenende aufzustehen, bevor es gleich wieder völlig dunkel wird, schön zu kochen, das Haus ordentlich zu halten oder seltsame russische Schallplatten meines Vermieters zu hören. Trotzdem könnte ich mich oft nicht dazu aufraffen, das Bett zu verlassen, wenn ich mich nicht zum Beispiel mit meiner erfrischend unsportlichen Französin zum Wandern verabredet hätte - und ihr geht es genauso. Wir überlisten unsere winterstarren Schweinehunde quasi gegenseitig. Was es kostet: Ein bisschen Zeit, ein offenes Ohr und das eine oder andere Heißgetränk, für das ich alleine nicht in die Stadt gefahren (geschweige denn gelaufen!) wäre. Unbedingt empfehlenswert.   Fazit: Heil durch die Polarnacht zu kommen ist ein ziemlicher Aufwand. Hier muß man sich seinen Sommer eben noch verdienen! Es gibt allerdings auch einige Studien, die gar keinen deutlichen Zusammenhang zwischen winterlichen Stimmungstiefs und geographischer Breite erkennen lassen. Speziell die Nordnorweger geben oft an, die dunkle Jahreszeit als gewohnten Teil ihres Lebens anzunehmen und sind nicht bereit, sich von Wissenschaftlern oder Medien krankreden zu lassen. Da befinde ich mich ja in beruhigender Gesellschaft. Ich lasse mich also von meiner Ersatzsonne wecken, schmeiße mir Vitaminpillen ein, versuche die Balance zwischen Schlafattacken und Produktivitätsanfällen zu halten, und hoffe das beste. Eines ist sicher: Auch der Tunnel am Ende des Lichts hat ein Ende.

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