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Die Stellschrauben der Lebensspanne

Die Lebenserwartung der Menschen steigt weltweit an. Manch Wissenschaftler geht sogar soweit zu behaupten, dass das menschliche Leben irgendwann beliebig ausgedehnt werden könnte.
Text: jetzt-redaktion
'Wenn es hoch kommt, 80 Jahre', billigt der 90. Psalm den Menschen zu. Doch inzwischen steigt weltweit nicht nur die Zahl der Hundertjährigen. Es gibt auch immer mehr 'Supercentenarians', die bereits den 110. Geburtstag feierten. Womöglich lässt sich die Grenze des Lebens künftig sogar noch weiter hinausschieben, wenn Stammzelltherapie und Molekularmedizin dem Verschleiß von Körper und Geist entgegenwirken; das erwarten zumindest die Experten für das Altern, die sich in der vergangenen Woche auf dem internationalen Kongress 'Our Common Future' in Hannover und Essen getroffen haben, den Sitzen der Veranstalter Volkswagen- und Mercator-Stiftung.








Niemand geht indes so weit wie der Brite Aubrey de Grey: Er behauptet, das Leben ließe sich nahezu beliebig ausdehnen. Man müsse nur den Müll innerhalb und außerhalb der Zellen beiseite schaffen und verhindern, dass Eiweiße verklumpen, wie etwa bei der Alzheimer-Krankheit. Für diese Instandhaltung will de Grey Bakterien-Enzyme einsetzen, nach denen er auf Friedhöfen fahndet. Dort gebe es Mikroben, die menschliches Gewebe zersetzen, sie müssten folglich die molekularen Werkzeuge für solche Aufräumarbeiten besitzen. Die Aufgabe der medizinischen Forschung wäre es dann, die Moleküle zu isolieren und rechtzeitig in den menschlichen Organismus einzuschleusen.



Diese Vorstellung eines Scheckheft-gepflegten Körpers mochte keiner der Konferenzteilnehmer auch nur diskutieren. Am Rande der Tagung äußerten sich etliche Wissenschaftler verwundert, dass der Außenseiter deGrey überhaupt - und noch dazu zum Einführungsvortrag - eingeladen wurde. Doch einen molekularbiologischen Jungbrunnen möchten auch seriöse Stammzellforscher erschaffen. Seit es einem japanischen Forscherteam vor wenigen Jahren gelang, aus gewöhnlichen Körperzellen - so genannten Fibroblasten - Stammzellen herzustellen, die sich in eine Vielzahl verschiedener Zellen weiterentwickeln können, boomt die Forschung an diesen 'induzierten pluripotenten Stammzellen'. Mit ihrer Hilfe vermeiden Forscher das ethische Dilemma, Zellen zu verwenden, die aus Embryonen gewonnen werden.



Viele Altersleiden, von Krebs bis Parkinson, sollen sich künftig mit maßgeschneiderten Ersatzzellen kurieren lassen, so das Versprechen. Vorerst sind die Forscher allerdings dabei zu erkunden, welche Zellen sich als Ausgangsmaterial am besten eignen, berichtet Hans Schöler vom Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin in Münster.



'Jeder Wissenschaftler, der alt wird, fängt an das Altern zu studieren', bemerkt der 71-jährige Stammzell-Pionier Irving Weissman von der Stanford University. Er ist optimistisch, dass innerhalb der kommenden zehn Jahre etliche Stammzelltherapien Realität werden. So hofft er, dass künftig vor einer Transplantation von Organen oder organspezifischen Stammzellen das Knochenmark des Empfängers durch isolierte Knochenmark-Stammzellen des Spenders ersetzt werden kann. Das könnte Abstoßungsreaktionen verhindern, da neues Organ und Immunzellen zusammenpassen. Auch Autoimmunkrankheiten wie Diabetes vom TypI, bei denen das Immunsystem eigenes Gewebe zerstört, könnten durch einen Austausch der Abwehrzellen heilbar werden.



Indes warnt Weissman vor voreiligen Therapieversuchen. Er selbst würde sich derzeit keiner Knochenmarktransplantation unterziehen, wenn er Diabetes hätte. Rundweg betrügerisch sei es, wenn private Kliniken heute schon versprechen, mit Stammzellen eine Vielzahl von Krankheiten zu heilen. Er sei sehr erstaunt, dass in Deutschland unkontrollierte Therapieversuche mit Stammzellen erlaubt seien, wie der an einem kleinen Jungen, der in diesem Sommer starb, nachdem ihm in einer Düsseldorfer Klinik Knochenmarkzellen ins Hirn gespritzt wurden (SZ vom 26.10.).



Wie lange Stammzelltherapien und andere medizinische Fortschritte - wenn sie denn Realität werden - das Lebensende hinauszögern könnten, bleibt offen. Ausgedient hat die Hypothese, der menschliche Organismus gleiche einem Uhrwerk mit vorprogrammierter Maximallaufzeit. Seit 200 Jahren steigt die Lebenserwartung stetig, berichtet der Alternsforscher Tom Kirkwood von der Newcastle University in Großbritannien. Es sei auch kein Grund erkennbar, warum bei einem bestimmten Alter definitiv Schluss sein solle, so Kirkwood. Die Evolution jedenfalls habe sich um diese Frage nie gekümmert. Für Menschen wie für alle Tiere war es immer nur von evolutionärem Vorteil, wenn sie lange genug lebten, um Kinder zu zeugen und großzuziehen.



'Ungefähr 40 Jahre lang bleibt der Körper daher gut in Form', sagt Kirkwood. Danach sammeln sich in Erbgut und Zellen nach und nach immer mehr Fehler an, die insgesamt den Alterungsprozess ausmachen - Kopierfehler bei der Zellteilung etwa, und kürzer werdende Schutzkappen an den Chromosomen. Wo es gelingt, die Schäden gering zu halten oder zu reparieren, steigt die Lebenserwartung. Überwiegend seien Lebensweise und Umwelt eines Menschen dafür verantwortlich, erläutert Kirkwood. 'Nur etwa zu einem Viertel ist es die genetische Veranlagung, hat die Zwillingsforschung ergeben.'



Wer mit Blick auf seine langlebigen Großeltern darauf vertraut, trotz ungesunder Lebensweise uralt zu werden, liegt demnach falsch. Doch mit vielen neuen Ratschlägen für ein möglichst langes Leben kann die Forschung auch nicht aufwarten: 'All die langweiligen Sachen, die unsere Eltern uns immer schon gesagt haben, sind richtig', versichert Kirkwood: 'Gesund essen, viel bewegen, nicht rauchen.' Bedeutsamer als früher gedacht sei indes auch der psychische Faktor: Wer mit sich und seinem Leben zufrieden sei, lebe länger. So befragte seine Arbeitsgruppe mehr als 1000 Bewohner Newcastles, die 85 Jahre und älter waren. Praktisch jeder litt an mindesten einer Gesundheitsstörung. Vier von fünf der hochbetagten Studienteilnehmer erklärten dennoch, ihr Befinden sei gut oder sogar hervorragend.



Wer heute in einem reichen Land geboren wird, darf auf eine Lebenszeit von weit über 80Jahren hoffen. Ein Kind, das in einem armen Land zur Welt kommt, hat 20 Jahre weniger vor sich, berichtet Colin Mathers von der Statistik-Abteilung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Doch die Tendenz ist in beiden Gruppen steigend. Immer wieder hat seine Organisation ein Abflachen dieser Kurve vorhergesagt, eingetreten ist dies nicht. Die Bevölkerungswissenschaftler Leonid Gavrilov und Natalia Gavrilova von der University of Chicago haben daher schon einmal berechnet, was ein maximales Lebensalter von 170 Jahre bedeutet. Die Bevölkerung in den Industrieländern würde dann wachsen, aber langsam und in erträglichen Grenzen, so ihre Botschaft.



Ob Menschen wirklich so lange leben werden, wenn der medizinische Fortschritt Krebs und Herzkreislauferkrankungen als häufigste Todesursachen in den Industrieländern besiegt? Ihm gehe es nicht so sehr darum, Alten zusätzliche Lebensjahre zu verschaffen, als Menschen zu retten, die in der Mitte des Lebens an Krebs erkranken, sagt Irving Weissman dazu, der selbst als Mittvierziger an Darmkrebs litt. 'Wenn man 120Jahre gesund leben kann, ist das doch ganz okay.' Viel weiter hat es auch noch niemand geschafft. Allen Versicherungen der Wissenschaft zum Trotz, dass sich die Grenze weiter hinausschieben wird: Den Altersrekord hält seit 13 Jahren die Französin Jeanne Calment, die 1997 mit 122 Jahren starb.



Global betrachtet ließen sich mehr Lebensjahre als durch molekularmedizinische Fortschritte ohnehin durch einfachere Maßnahmen gewinnen. Colin Mathers spekuliert nicht über ein mögliches Methusalem-Alter, sondern analysiert, wodurch heute weltweit die meisten menschlichen Lebensjahre verloren gehen. Die wichtigsten Killer sind nach Statistiken der WHO immer noch: Unterernährung von Kindern, HIV-Infektionen durch unsicheren Sex, Alkoholmissbrauch und Mangel an sicherem Trinkwasser. Gelingt es zu verhindern, dass Kinder durch verseuchtes Trinkwasser schon vor ihrem fünften Geburtstag an Durchfall sterben, werden weit mehr Lebensjahre gerettet, als ein medizinischer Jungbrunnen der Lebensspanne Hochbetagter in absehbarer Zukunft hinzufügen kann.



Autor: WIEBKE RÖGENER

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