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Das sieht so richtig schön alt aus

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Vielleicht muss man die Geschichte dieser Bilder als Geschichte von Menschen erzählen, die einfach so häufig online sind, dass sie sich nach dem Analogen zurücksehnen. Diese Menschen sind diejenigen, die im Kindesalter noch gerade so Polaroid-Bilder schüttelten und ihre Finger noch in Wählscheiben-Telefone steckten. Diese Menschen sind auch diejenigen, denen wir es verdanken, dass wir seit ein paar Monaten von Bildern umgeben sind, die einen Retro-Charme ausstrahlen, den selbst das mehrfach vor sich hin gesagte Wort „Wählscheibentelefon“ nicht erreichen kann: Der heute früh fotografierte Café-Besuch sieht auf diesen Fotos aus, als liege er Jahrzehnte zurück, so vergilbt wirken die quadratischen Motive. Doch all das entdecken wir nicht auf Dachböden und in Schuhkartons, sondern verlinkt auf Facebook, als Eintrag in Blogs oder als Anhang in E-Mails.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Bilder stammen von Geräten, die auch Telefon genannt werden. Man kann sie mit der iPhone-App Hipstamatic machen. Die ist seit rund einem Jahr erhältlich und verleiht der Kamera im Apple-Telefon die rückständigen Fähigkeiten eines 80er Jahre Fotoapparats. Die Rede ist dabei von der Hipstamatic 100, von der Richard Dorbowski in seinem Blog hipstamatic.com erzählt, dass seine Vorfahren sie in den frühen 80er Jahren nur 157 mal produziert haben. Ziel sei es damals gewesen, einen Plastikfotoapparat zu bauen, der günstiger ist als ein Film. So kamen Bruce und Winston Dorbowski auf die Idee, eine Hipsta A1 Linse mit dem Kassettenfilmsystem „Instamatic“ der Firma Kodak zu kombinieren. Das digitale Äquivalent dieser Verbindung kann man sich heute für 1,59 Euro auf das iPhone laden – unter einem Namen, der klingt als sei er für die Hipster amerikanischer und europäischer Großstädte erfunden worden. In Wahrheit haben die Macher der Programmierfirma Synthetic nur die Geschichtsbücher sehr genau gelesen und verstanden, was sich heutige Netz-Benutzer wünschen. Außer der Hipstamatic-App hat Synthetic nämlich noch zwei weitere Foto-Programme im Angebot: eine App simuliert eine Dunkelkammer in der analogen Fotoentwicklung (SwankoLab), die andere verleiht dem iPhone die Fähigkeiten eines Passbild-Automaten (IncrediBooth).

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert
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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Doch dass in Hipstamatic rein sprachlich noch mehr steckt, haben die Erfinder durchaus verstanden: Unter dem Slogan „Be a hip Star“ veranstalten sie online regelmäßig die große Hipstamatic-Show, bei der sie sich mit dem Charme angesagter Bands (aktuell Junip) umgeben, um ihrem kleinen Programm das richtige Image zu verleihen. Es geht um die Verklärung von Vergangenem, die man auch auf Flohmärkten beobachten kann und mit der die App-Entwickler Geld verdienen. Nutzer können für ihre digitale Kamera-Imitation Filme und Objektive kaufen, die den Bildern dann jeweils einen etwas anderen Stil verleihen. Die jüngste Stufe der Vergangenheits-Verwertungskette heißt Hipstamatic Print-Lab und bietet den Retro-Fotografen seit kurzem die Möglichkeit, ihre Bilder ganz klassisch auf Fotopapier ausdrucken zu lassen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert
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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Macher der App zeigen damit beispielhaft, wie man im digitalen Zeitalter rund um ein Stück Software eine ganze Welt erfinden kann. Und sie sind damit Vorbild für zahlreiche andere Anbieter. Für Android-Telefone gibt es mittlerweile vergleichbare Apps (hier heißen sie Retro Camera oder Vignette), die „QuadCamera“-App imitiert die Mehrfach-Fotos einer Lomo-Kamera und auch die Macher der Anwendung instagr.am, die eine Art Twitter für Fotos sein möchte, nutzen den Retro-Aufwind von Hipstamatic. instagr.am ist ein soziales Netzwerk, das sich um Fotos aufbauen soll. Diese kann man mit einer Ortskennung versehen und ins Netz laden – vor allem aber kann man sie mit Filtern bearbeiten, die Namen tragen wie „1977“ und „Lomo-fi“. Die Bilder sehen anschließend fast so aus als habe jemand sie mit einer Hipstamatic-App fotografiert: quadratisch, an den Kanten ausgefranst und irgendwie vergangen. Oder um es mit dem Slogan von Hipstamatic zu sagen: „Digitale Fotografie sah nie so analog aus.“ Und das ist auch der Grund, warum die Geschichte von der Sehnsucht nach dem analogen Vergangenheit vielleicht doch nicht ganz stimmt. Denn es spricht einiges dafür, dass diese Sehnsucht lediglich die sehr erfolgreiche Verpackung ist, mittels derer der Überdruss an der allseits präsenten Fotografie überdeckt wird. Wo ständig Bilder gemacht werden, müssen sich diese irgendwie abheben. Der Vergangenheitsfilter hilft dabei, er verleiht den Anschein von Eigenständigkeit. Allerdings nur so lange, wie er nicht überall genutzt wird und wir uns daran nicht satt gesehen haben. Doch wenn der Retro-Bilderboom so weiter geht, dauert das vermutlich nicht mehr lange.

Text: dirk-vongehlen - Fotos: privat

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