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Lina geht Wege

Text: lilluvya
Lina geht Wege. Lina geht die Wege, die sie nicht gerne beschreitet. Sie sind dunkel, sie sind verlassen, sie sind ein wenig unheimlich, sie sind ohne Farbe. Lina geht diese Wege heute. Früher ging sie sie schnell, gehetzt, genoss nicht die bohrende Stille, die sie inne hatte, hörte nicht auf das unheimliche Knacken der Äste oder das Kreischen der Elstern. Lies die Kälte nicht in sich fahren, sondern wehrte sich gegen sie, trug Mütze und Handschuhe und dachte an zu Hause.



Heute geht Lina Wege. Sie geht sie langsam, fast als wäre sie für einen kleinen Herbstspaziergang an die frische Luft gegangen, aber Lina geht nicht um des Laufens Willen. Sie geht Wege. Dunkle Wege und sie saugt sie in sich auf, hinter ihr werden die Begrenzungen schwammig, die flackernden Laternen fallen aus und der Anfang verschwindet. Sie denkt an die Festung von Hyrula, wo Link nur mit schnellen Schritten über die Brücken gehen kann, da sie hinter ihm einstürzen. Lina geht langsam und spürt ihre Fersen wegbrechen.



Lina findet am Rande der Wege vermodernde Kadaver, die einst Marionetten im sommerlichen Kampf zwischen Hysterie und Übermut waren. Begleiter im Voranschreiten von Zuversicht und Glück. Mit dem Fall der Puppenspieler und Vorbilder, fielen ihre Figuren, die jetzt vermodernd, in zerschlissenen Kleidern und angenagt von Kleintier wie Dreck am Wegesrand liegen und sich mit ihrem ätzenden Gestank am letzten Zipfel des Rocksaums dessen klammern, was man die Diesseitigkeit bezeichnet. Lina hält inne, geht in die Knie, nimmt eine Hand in die ihre, drückt mit der Handinnenfläche auf seine Handaußenseite und drückt mit einem schnellen Ruck der rechten Hand die Finger nach hinten. Es knackt fünf Mal und Lina steht wieder auf und geht weiter, immer mit dem Knacken hinter sich, dem Bröckeln, dem Abgrund, der Löcher in Häuser reißt und in Bäume, in die Stadt, in die Sonne und ihre Sinne, ihre Gefühle und freimutig gibt sie ihm alles, alles was sie hat.



Dass es kein Zurück mehr gibt, lässt sie ruhig werden, dass es kein Umdrehen gibt, keine sogenannte Reue, keine Buße, keine Schuldeingeständnisse, keine Einsicht, kein „es-tut-mir-so-leid“, nimmt Steine von ihrer Seele, die sie allesamt in den Schlund schmeißt, der sich hinter ihr auftut. Sie kommt an keiner lebenden Person vorbei, nur an Leichen, stinkenden Leichen einer Zeit, die sie die Zeiten der Verblendung nennt, die so hell waren, dass man das Dunkel nicht mehr sehen musste und in ihr macht sich eine Zufriedenheit breit. Nicht, weil sie allen wünscht, dass sie das erleben, sondern weil sie endlich das Gefühl hat, dass die Menschen sagen werden: Lina wusste, dass es geschehen würde.



Sie wusste, dass die Tage nun endlich ihr Ende hatten, dass endlich nicht alles einfach mehr weitergehen würde, wie es immer einfach weiter geht. Ihre Oma starb und die Flugzeuge flogen noch, ihre Mutter fiel und die Autos fuhren noch. Als ihr Vater sie für die größte Enttäuschung seines Lebens hielt, entgleiste nicht ein einziger Zug. Als die Sonne in ihr einfach nicht mehr aufgehen wollte, da gingen die Menschen einfach zur Arbeit. Aber jetzt weiß sie, dass nichts weitergehen wird. Alles zerfällt, alles steht zum Sperrmüll, alles wird von einer riesigen Schwärze verschluckt, die irreversibel alles vernichtet, was wir Welt, Diesseitigkeit, Realität, Erde, Universum, Leben, Liebe oder Freiheit nennen.



Mit jedem Schritt wird sie leichter, mit jedem Knirschen wird es einfacher, noch einmal saugt sie den Schmerz in sich auf, die Finsternis, den Geruch der dahinsiechenden Leichen, den Hass, die Kälte, das nahende Ende, an das sie immer näher herantritt und spricht flüsternd Sätze, die sie begleiten. Seit immer. You can now unlock the sadness. If you ever feel the need.



Und eine Ecke später holt sie sich ein. Tritt der Schwärze entgegen, zittert nicht und ist nicht ängstlich. Lina blickt nicht zurück. Sie weiß nur, dass die Wege nun endlich ein Ende haben.



So wie die Tage.

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