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Mein Leben ohne Fernseher

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Ein sonniger Spätsommernachmittag im September, ich radele vom Fußballtraining nach Hause, mein Vater kommt gerade von der Arbeit zurück. Wir unterhalten uns, ich schalte das Radio an, Bayerischer Rundfunk, B5 aktuell. Die Nachrichtensprecherin wirkt angespannt, der Tonfall ungewohnt alarmiert. Es ist der 11. September 2001. Wenige Minuten später sitzen wir im Auto auf dem Weg zu meinen Großeltern. Nicht etwa aus Sorge um deren Reaktion und ihre Gesundheit, der Grund ist viel banaler. Wir wollen Bilder sehen. Wir wollen nicht nur in Endloswiederholungen die ewig gleichen Korrespondentenberichte im Radio hören, sondern auch mit den Augen nachvollziehen, was passiert ist. Nicht umsonst heißt es, ein Bild sage mehr als tausend Worte und selten war diese Binsenweisheit so wahr wie beim Fall der einstürzenden Twin Towers. Doch wir haben keinen Fernseher zuhause und vor neun Jahren waren Online-Mediatheken noch ferne Zukunftsmusik. Ohne Mattscheibe aufzuwachsen ist eine prägende Erfahrung. Viele Kindheitserinnerungen meiner Altersgenossen sind mir bis heute völlig fremd geblieben. Weder die Sesamstraße, noch der rosarote Panter haben Spuren bei mir hinterlassen, ebenso wenig wie Tom und Jerry, sämtliche Disney-Abenteuer und alle anderen Kinderserien. Ich bin nicht durch die Simpsons und South Park sozialisiert worden und konnte Nachrichten zeitlebens nur in der Zeitung und im Hörfunk verfolgen. Meine erste Fußball-EM erlebte ich 1996 vor dem Radio, auch Wetten, dass...? habe ich noch niemals gesehen. Ständig begegnet mir die Frage, warum wir nie einen Fernseher hatten. Der Grund ist vermutlich eine Mischung aus aktiver Verweigerungshaltung und gepflegtem Desinteresse. Mein Vater bezeichnet die Flimmerkisten noch heute als "Zeitfressmaschinen", meine Mutter kann dem Fernsehprogramm nichts abgewinnen, sie nutzt ihre spärliche Freizeit lieber anders. Warum ich mir nicht einfach selbst ein TV-Gerät ins Zimmer gestellt habe? Als Kind konnte ich mir es nicht leisten und heute will ich es überhaupt nicht mehr, weil ich mittlerweile so ans "televisionäre Zölibat" gewöhnt bin. Aber ich frage mich trotzdem immer wieder, ob ich nicht doch etwas verpasse; ob mir nicht eigentlich ein nicht unerhebliches Stückchen Kultur fehlt, das für den Großteil meiner Generation, so ist zumindest mein Eindruck, ganz selbstverständlich zum Erwachsenwerden gehörte.

Die Deutschen schauen im Schnitt jeden Tag rund dreieinhalb Stunden fern. Wenn die wegfallen, bleibt zwangsläufig reichlich Zeit für anderes. Das ist schön, aber für mich war es vor allem: langweilig. Während in meiner Kindheit viele Freunde den Fernseher an- und innerlich abschalten konnten, guckte ich erst mal Löcher in die Luft oder ging meinen Eltern auf die Nerven. Zu meinem Glück bin ich auf dem Land aufgewachsen und so entdeckte ich schnell eine Alternativbeschäftigung. Zusammen mit meinem besten Freund (der zwar Zuhause einen Fernseher, aber auch ausgesprochen strikte Eltern hatte) entdeckte ich die Wälder der Umgebung. Wir bauten Staudämme und Baumhäuser oder veranstalteten Fahrradrennen, die wir selbst kommentierten. Das war zumindest zeitweise ein guter Ersatz. Aber so faszinierend die Natur für mich als Kind auch sein mochte, irgendwann wurde auch das wildeste Herumtoben öde und schwuppdiwupp, schon war die Langeweile wieder da. Was ich in diesen Momenten ohne Bücher angestellt hätte, weiß ich nicht. Es klingt so klischeehaft, aber die Fernseher-Lücke ließ sich tatsächlich nur mit Büchern füllen. Die Leselöwen-Bände waren mein Powerranger-Ersatz, Michael Ende wurde mein Peter Lustig und statt Bambi brachten mich die Brüder Löwenherz zum Weinen. Als "Betthupferl" gab's elterliches Vorlesen statt Gutenachtgeschichten vom Sandmännchen. Meinen Wissensdurst stillte ich mit Was ist was?-Büchern anstelle der Sendung mit der Maus. Janosch entführte mich auf Abenteuerreisen: Zusammen mit dem kleinen Bär und dem kleinen Tiger entdeckte ich die Schönheit von Panama und machte mich auf Schatzsuche. Astrid Lindgren schuf die Helden meiner Kindheit: Ich eiferte den Streichen von Michel aus Lönneberga nach, bewunderte Ronja Räubertochter für ihren Mut und Kalle Blomquist für seine Cleverness. Ob Sachbuch oder Abenteuergeschichten, trivialer Schmöker oder später auch anspruchsvollere Literatur, ich verschlang alles, solange es nur zwischen zwei Buchdeckeln steckte. Am meisten wundere ich mich heute über die immer erstaunten, manchmal irritierten, mitunter entgeisterten Reaktionen angesichts der simplen Tatsache, dass es bei uns keine Flimmerkiste gab. In der Schule wurde daraus kurzzeitig ein Running Gag und der „Mensch ohne Fernseher“ zum geflügelten Wort. In diesen Situationen wurde mir meine Besonderheit bewusst und natürlich gab und gibt es durchaus Anlässe, zu denen ich mir einen Fernseher gewünscht hätte. Mit Freunden gemütlich vor der Sportschau sitzen und herrlich dumm daherreden, ab und zu mal die Tagesschau angucken oder auch mal die dumpfe Nachmittagsberieselung mitnehmen – da hätte ich nicht nein gesagt. Vermutlich. Bin ich denn nun anders aufgewachsen als „normale“ Menschen mit Fernseher? Vielleicht bin ich der Falsche, um diese Frage zu beantworten, ich kenne schließlich nur eine Seite der Medaille und mir fehlt die Gegenperspektive. Ich hatte jedenfalls nie das Gefühl, etwas zu verpassen, denn was man nicht kennt, kann man auch schwerlich vermissen. Trotzdem kann ich etwas zu den Folgen einer fernsehlosen Kindheit sagen. Der bloße Nicht-Konsum von Fernsehunterhaltung macht sich nicht nachteilig bemerkbar, glaube ich zumindest. Tiefgreifender waren und sind die Folgen für meine Alltagskommunikation: Unzählige Partygespräche drehten sich zum Beispiel um Serien aus Amerika, deren Namen mir rein gar nichts sagen. Wenn am Morgen nach dem Champions-League Finale die „Abseits oder nicht?“-Frage für hitzige Debatten sorgte, wurde ich zum ahnungs- und meinungslosen Zuhörer. Jörg Kachelmann kenne ich ehrlich gesagt erst wirklich, seitdem er mir täglich von den Titelseiten der Zeitungen entgegenblickt. Und bis heute sind für mich nahezu alle Talkshowmoderatoren ähnlich gesichtslos geblieben wie Radioreporter oder Zeitungsjournalisten. Gut, mit Jauch und Gottschalk kann ich etwas anfangen, aber an Tom Buhrow oder Maybritt Illner würde ich wohl einfach vorbeilaufen. Zwar sind mir dank Youtube nicht mehr sämtliche Musikvideos fremd, aber von MTV und VIVA kenne ich trotzdem nicht mehr als den Namen. Wirklich erstaunlich ist übrigens, wie oft über Fernsehwerbung geredet wird! Meist sind es nur Randbemerkungen oder Anspielungen auf neue Clips. Wenn nicht zeitgleich die halbe Stadt mit entsprechenden Plakaten zugekleistert wird, dann verstehe ich nur Bahnhof. Ich glaube kaum, dass mein Leben anders verlaufen wäre, hätte ich Zugang zu RTL und Co gehabt. Ich würde womöglich ab und zu Bart Simpson zitieren und wüsste dafür vielleicht nicht, warum „42“ die Antwort auf alle Fragen darstellt, aber im Wesentlichen wäre ich der gleiche Mensch. Und dennoch komme ich mir manchmal vor wie in einem unbekannten Land oder einer fremden Zeit, ein nicht wirklich zugehöriger Anachronismus. Während die meisten Menschen bei jeder Nachricht sofort Gesichter und Bilder aus der Tagesschau vor Augen haben, verbinde ich damit nur die Stimme eines Nachrichtensprechers oder die Überschriften der Zeitungen. Ich habe also ein eigenes Weltbild. Wie wahrscheinlich jeder.

Text: simon-hurtz - Foto: eris23 / photocase.com

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