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Vom Flashmob zum Smartmob: Wie ernst muss man Spaßdemos nehmen?

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Ein Frühsommerabend vor sieben Jahren, mitten in Manhattan, geschäftiges Treiben im New Yorker Kaufhaus Macy’s. Noch wissen die Besucher nicht, dass sie gerade der Geburtsstunde einer neuen Aktionsform beiwohnen und Zaungäste für ein zukünftiges Zeitgeistphänomen sein werden. In der Möbelabteilung sammeln sich mehr und mehr Leute, bis schließlich etwa hundert Menschen rund um einen Teppich stehen und den erstaunten Verkäufern eröffnen, dass sie alle gemeinsam in einem Lagerhaus am Stadtrand lebten, auf der Suche nach einem "Liebesteppich" seien und jegliche Kaufentscheidungen nur im Kollektiv träfen. Sie hinterlassen ratlose Mitarbeiter und irritierte Kunden, nur um wenige Minuten später in der Lobby des luxuriösen Hyatt Hotels in tosenden, exakt 15 Sekunden währenden Applaus auszubrechen und im Anschluss als vermeintliche, mittlerweile 200-köpfige Touristengruppe in einem Schuhgeschäft für Verwirrung zu sorgen.

Trotz wilder Spekulationen und zahlreicher Interpretationsversuche blieben Sinn und Zweck erst einmal verborgen, nur der Urheber der ferngesteuerten Menschenmassen ließ sich ermitteln. Hinter diesem Treiben steckte Bill Wasik, der Chefredakteur des Harper's Magazine. Der Journalist koordinierte die Aktion via SMS und sorgte für Begeisterung unter den Teilnehmenden. Das mediale Echo folgte auf dem Fuß, insbesondere die Internetcommunity reagierte enthusiastisch. Faszinierend sei das subversive Potential der Flashmobs, so die schnell gefundene Bezeichnung für die spontanen Massenversammlungen. Durch nonkonformistisches Verhalten mit kollektivem Nonsens aus dem Alltagstrott ausbrechen, selbstironisch und kreativ, spontan und gewitzt – das passte ganz wunderbar zum modernen Zeitgeist und dem Streben nach Individualität und Abgrenzung. Der Medientheoretiker Howard Rheingold erhob das Mob-Konzept sofort zur "sozialen Revolution" und erklärte, dem "intelligenten Pöbel" gehöre die Zukunft.

Der prognostizierte Durchbruch ließ jedoch auf sich warten. Zwar wurde die Flashmob-Sau einmal durchs Dorf getrieben und beschäftigte Politik-Kommentatoren und Feuilletonisten – doch die Aufmerksamkeit blieb ein Strohfeuer. Das Interesse ließ bald nach, die Bewegung verebbte und drei Jahre später entlarvte der "Erfinder" der Flashmobs bereits deren Entstehung als ein großes Missverständnis. Die dadaistisch anmutende Spaß-Horde in Manhattan sei eigentlich ein Experiment im Stile des Buches "Die Welle" gewesen, das die Manipulierbarkeit von sozialen Gruppen thematisiert, erklärte Bill Wasik. Er habe zeigen wollen, wie konformistisch die ach so individuellen Hipster seien, die nur danach strebten, Teil des "next big thing" zu werden. Wasik wollte den blinden Glauben an Ironie und Kreativität ironisieren und wurde dadurch unfreiwillig selbst zum Vorzeige-Trendsetter.

Doch genauso wenig wie die erste Begeisterungswelle den Startschuss für „die“ neue Aktionsform schlechthin bildete, erwiesen sich auch die Abgesänge auf den Flashmob als verfrüht. Das vermeintliche Aussterben sollte nur ein Dornröschenschlaf bleiben. Seit 2007 erstarren wieder Menschen in Fußgängerzonen in vorübergehender Bewegungslosigkeit, fallen auf Kommando wie tot zu Boden, liefern sich anlässlich des Pillow-Fight-Day wilde Kissenschlachten in der Öffentlichkeit, legen mit Berliner McDonald’s-Filiale

Der Flashmob erfreut sich nicht nur wieder alter Beliebtheit, er hat seine Wiederauferstehung auch gleich für eine grundlegende Revitalisierung genutzt. Ging es in der ursprünglichen Form noch ausschließlich um Zerstreuung und den Spaß am offensichtlich zweckfreien Gaga-Dadaismus, so werden die Aufrufe zur Ad-hoc-Vergemeinschaftung über Blogs, Twitter und SMS mittlerweile auch zu kommerziellen und politischen Zwecken genutzt. T-Mobile schickte Tänzergruppen durch britische Bahnhöfe, um auf seine neuen UMTS-Tarife aufmerksam zu machen und sich selbst ein modernes Image zu verpassen. Die Flashmobber der ersten Stunde distanzieren sich jedoch ausdrücklich von solchen Aktionen. Es gehe um das Gemeinschaftsgefühl und das Umfunktionieren des öffentlichen Raums - von Werbeagenturen organisierte Events hätten mit der ursprünglichen Idee nicht mehr zu tun.

Nicht nur Unternehmen auf der Suche nach neuen PR-Strategien machen sich das Prinzip des Flashmobs zu Nutze, auch als politisches Phänomen tritt er in Erscheinung. Während der Flashmob in seiner ursprünglichen Form schlicht Aufmerksamkeit mobilisieren möchte und sich dann aus dem Staub macht, zielt der sogenannte Smartmob auf nachhaltige Wirkung ab. Schon 2001 trugen blitzartig einberufene und per SMS ("Go 2EDSA, wear black") weiterverbreitete Proteste zum Sturz des philippinischen Präsidenten Estrada bei. Überall wo der korruptionsverdächtige Politiker auftauchte, protestierten in Windeseile auch schwarz gekleidete Aktivisten. Zwar wurde der Begriff des Smartmobs erst später geprägt, im Grunde beinhalteten die Demonstrationen auf den Philippinen aber schon alle seiner wesentlichen Bestandteile. In Deutschland traten die Smartmobs mit politischen oder gesellschaftskritischen Absichten zum ersten Mal im Zuge einer Rede Angela Merkels im Jahre 2007 in Erscheinung. Ausgangspunkt war die Verfremdung eines Wahlkampfplakats mit der Bildunterschrift „Die Kanzlerin kommt“, dem ein Unbekannter die Worte "und Alle so: Yeaahh hinzufügte. Es entspann sich eine Diskussion in Internetforen, die schließlich dazu führte, dass eine Gruppe von Aktiven bei Merkels Rede jedem Satz ein lautstarkes „Yeaahh“ folgen ließ, was für reichlich Situationskomik und jede Menge Irritationen bei den uneingeweihten Zuhörern sorgte.

Diese erfolgreichen Beispiele machten Schule und so griffen auch etablierte Protestbewegungen wie Greenpeace oder attac das Konzept des Smartmobs auf. Die Gewerkschaft ver.di organisierte im Tarifkampf 2009 kurzfristig angekündigte Veranstaltungen in Supermärkten, bei denen die Teilnehmer Cent-Artikel in Massen erstanden, voll beladene Einkaufswägen vor den Kassen abstellten und auf diese Weise die Geschäfte kurzfristig lahmlegten. Diese Form des Aufbegehrens war wirkungsvoller als ein gewöhnlicher Streik und laut einem Gerichtsurteil ein legitimes Mittel des Arbeitskampfes.

Insbesondere in autoritären Regimen mit strenger Überwachung haben sich die Smartmobs zu einer Art gewaltfreier Partisanentaktik entwickelt. Wo angekündigte Demonstrationen von den Sicherheitskräften oft schon im Ansatz gewaltsam unterbunden werden, stellen die scheinbar aus dem Nichts kommenden Blitzaktionen mitunter die einzige Möglichkeit zum Protest dar. In Weißrussland kommt es inzwischen häufiger vor, dass auf einem belebten Platz im Zentrum der Hauptstadt Minsk plötzlich hunderte Menschen die Regierungszeitung aus der Jackentasche ziehen, demonstrativ zerknüllen und ordentlich in Papierkörbe stopfen, um dann wieder ihrer Wege zu gehen.

 

Einen anderen Weg gehen die sogenannten Carrotmobs, die Geschäftsinhaber für besonders umweltverträgliche Angebote belohnen sollen. Ausgangspunkt war auch hier einmal mehr Amerika, diesmal San Francisco, wo der Initiator, Brent Schulkin, ein Verbrauchernetzwerk gründete. Er versprach, alle Mitglieder des Zusammenschlusses zum Einkaufen in dem Laden zu schicken, der an diesem Tag den größten Teil des Umsatzes in einen klimafreundlichen Umbau investieren wolle. Das Konzept ging auf, ein kleines Lebensmittelgeschäft verfünffachte an besagtem Aktionstag seinen Gewinn und der Flashmob hatte eine weitere Erscheinungsform gefunden, die innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Nachahmer finden sollte.

 

Auf uneingeschränkte Zustimmung stoßen die "sinnvollen" Flashmobs keineswegs. Kritiker sehen darin eine „Protestkultur light“ für träge, demonstrationsunwillige Pseudo-Aktivisten und warnen davor, der Sache zu viel Bedeutung, geschweige denn tatsächliche Gestaltungsmacht beizumessen. Wer nicht mehr bereit sei, Opfer zu bringen, der dürfe auch nicht erwarten, dass sein Anliegen ernst genommen werde. Wenn man das grüne Gewissen schon beim Einkaufen beruhigen könne und sich so den "lästigen" Aufwand für Straßenproteste erspare, dann sei das der Niedergang des wahren Aktivismus. Fragt man moderne Protestierer nach ihrer Meinung, dann scheint dieser Vorwurf nicht vollkommen abwegig zu sein: "Es fällt mir schwer, regelmäßig den Arsch hochzukriegen und an Treffen von Greenpeace und Co teilzunehmen", gestand eine Teilnehmerin auf einer Spontan-Aktion der Berliner "Klimapiraten" anlässlich des Weltklimatags. "Da sind solche Ad-hoc-Proteste ideal." Die Frage bleibt nur: Was bewirken diese Meinungsäußerungen im Vorbeigehen? Kann man wirklich en passant Politik machen? Es ist schwer vorstellbar, dass derartige Aktionen auf Dauer echtes Engagement und Herzblut ersetzen. Ohne eine gewisse Leidensfähigkeit bleibt der Ertrag häufig auf der Strecke, das gilt nicht nur in der Schule, sondern ganz genauso auch beim Protestieren.

 
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