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Zum Wandel der Aktfotografie durch das www.

Text: mrdobi
Die klassische Aktfotografie unterliegt in den letzten zehn Jahren einem unübersehbaren Veränderungsprozess. Zum Einen bewirkt das Internet eine Popularisierung und Demokratisierung der Aktfotografie, zum Anderen hat die Entwicklung immer preisgünstigerer digitaler Fototechnik diese Dynamik forciert.

Damit sich diese technologische Veränderung aber auch sozial durchsetzen konnte, musste die technologische Weiterentwicklung auf einen sozialen Wertewandel treffen, der eine hohe Akzeptanz von Akt- und Erotikfotografie mit sich bringt.

Die Aktfotografie selbst differenzierte sich in diesem Prozess ihrer weitgehend sozialen Akzeptanz inhaltlich immer mehr aus und wurde abgelöst durch das, wofür man heute am ehesten den Oberbegriff "nude"-Fotografie verwenden kann, die in ihren aktuellen Bildinhalten aber selbst schon wieder zunehmend ausfranst. Keine Frage - das Genre expandiert, oder vielleicht zutreffender: Es explodiert geradezu.

Und beschleunigt sich.

Fotobearbeitungsprogramme wie Photoshop tragen hier ihren Anteil zur Ausdifferenzierung bei. Es tritt als dritter technischer Baustein in Erscheinung und ermöglicht ambitionierten Fotografen, virtuelle Welten zu erschaffen, die ebenso zur Kunst wie zum Kitsch gerinnen können. Entstand ein gutes Foto, fei nach einem Bonmot von Andreas Feininger in erster Linie im Kopf, so entsteht es heute in erster Linie auch am PC. Oder provozierend formuliert: Grafik schlägt Optik, Erotik konkurriert mit Ästhetik, Virtualität verdrängt Authentizität.

Mit der populären Nude-Fotografie ist also ein sich selbst immer wieder neu erzeugendes Genre der Fotografie entstanden, das eine ganz eigene neue Ausprägung in der an sich schon unübersichtlich gewordenen Welt der Kunstfotografie repräsentiert. An die Stelle der berühmten "Grossen Fotografen" von früher sind heute hunderte mehr oder weniger professionelle Berufs- und Hobby-Fotografen getreten, die auf verschiedenen online-communities und eigenen Websites ihre Fotos zeigen und ggf. auch verkaufen.
Diese Entwicklung hat auch Konsequenzen auf die Präsentation und Vermarktung der Bildinhalte. An Stelle der früheren Monographie, des opulenten Bildbandes weniger prominenter Aktfotografen steht heute die de facto museal anmutende Aneinanderreihung unterschiedlicher Werke in Communities, deren qualitativ beste dann für die "Galerie" nominiert werden. Die dort gezeigten Fotos befinden sich also in einer Konkurrenzsituation und können von den "usern" kommentiert, empfohlen oder auch zur Löschung vorgeschlagen werden.
Den sogenannten "Administratoren" dieser Communities kommt in diesem Kontext eine Zensur-Macht zu, deren Legitimität und Kompetenz oft im Halbdunkeln liegt.

Aber nicht nur die technischen Bedingungen des Entstehens der Online-Nude-Fotografie haben sich verändert, auch die soziokulturellen Umstände haben sich tiefgreifend verändert.
Für die Hunderte, wenn nicht Tausende ambitionierter Hobby- und Profi-Fotografen wurde das bereits aufgezeigt. Aber auch das Verhalten der Betrachter hat sich verändert. An die Stelle des früheren kontemplativen Betrachtens von Aktfotos im Rahmen, womöglich im Rahmen einer Monografie, ist heute das Klicken des "Users" getreten, der innerhalb kürzester Zeit viele Dutzende Nude-Fotos konsumiert. Sein Aufwand für das schnelle Gucken steht in scharfem Kontrast zu den oft in stundenlanger Arbeit entstandenen Nude-Inszenierungen des Fotografen und/oder Producers am PC.

Ich selbst habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Aktaufnahmen, die ich in die STERN-Communiy einstellte, zwar innerhalb von 24 Stunden an die 1000 mal angeklickt, aber nie kommentiert wurden. Zahlreiche befreundete Aktfotografen berichteten mir dasselbe.
Verstärkt wird dieses schnelle "Durchklicken" durch Nude- und Aktfotografie noch, dass der soziale Wertewandel dazu führte, dass heute eine unüberschaubare Anzahl attraktiver junger Models, oft aus Osteuropa, für Nude-Fotografie zur Verfügung steht, was für sich genommen schon die Expansion und Beschleunigung des Genres befördert. Im diesen Kontext hat sich das Genre denn auch deutlich pornographisiert und wird in der Kunst als "porn-chic" bezeichnet. Die Aktfotografie hat sich hier nicht nur zur "erotischen Fotografie" gewandelt, wie sie innerhalb der STERN-Community abgegrenzt wird. Hier gehen manche Nude-Fotografen wie etwa der Fotograf Petter Hegre weiter und nehmen auf ihrer Website unübersehbare Anleihen bei der Pornographie. Hier werden dann nicht nur die erotischen Inszenierungen einer einzelnen Person gezeigt oder sind Darstellungen der primären Geschlechtsorgane obligatorisch, sondern agieren zwei oder mehrere Darstellerinnen auf den dargestellten Inhalten sexuell.

Die einzige fotografische Membran, die diese inszenierten Szenarios zur Hardcore- Pornographie noch abgrenzen, ist das Fehlen des männlichen Darstellers und dessen Erektion in Aktion. Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass diese skizzierte Entwicklung hier keiner moralisch-ethischen Bewertung unterliegen soll, sondern einzig dazu dient, Tendenzen der zeitgenössischen Akt- und Nude-Fotografie aufzuzeigen und analytisch transparenter zu machen.
Für die Aktfotografie im Internet und ihre junge Schwester - die Nude-Fotografie mit ihren vielen neuen Gesichtern - lässt sich also für das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts folgender vorläufiger Befund aufstellen:

Die klassische Aktfotografie stirbt nicht aus, wird aber zunehmend zu einem Nischenprodukt innerhalb der Nude-Fotografie. Die heutige Nude-Fotografie umfasst deutlich mehr als Aktfotografie, sie enthält unübersehbare erotische und pornografische Aussagen, wobei die generalisierte Ästhetik der Aktfotografie abgelöst wurde durch zahllose individualisierte Muster erotischer Inszenierung. Die kostenlosen bzw. preisgünstigen Präsenz- und Nutzungsmöglichkeiten von Nude-Fotografie führen einerseits zu einer Explosion und Beschleunigung der erotischen Bilderflut unterhalb des pornographischen Genres. Auf der anderen Seite verflachen zumindest nicht zwingend die Qualitäten der so zahlreich gewordenen Foto-Producer, wohl aber die der "user".

Deren "beschleunigter Blick", den der italienische Soziologe Paul Virillio schon vor Jahren in anderem Zusammenhang beschrieben hat, entfaltet im Bereich der Online-Akt- und Nude-Fotografie nun seine volle Dynamik.

Der klassischen Aktfotografie wünscht man, dass sie in ihrer Nische, wenn auch in die Jahre gekommen und freizügiger als in ihren Jugendjahren und technisch perfekt geliftet, weiter dahindümpeln möge und ihren Betrachtern weiter das bereiten möge: Die kontemplative Freude am perfekt inszenierten nackten Körper, die den Connaisseur verrät. 

- alle Rechte dieses Artikels beim Autor -






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