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Integration oder die Frage: "Bin ich drin?"

Text: Bigsmooth
In einer alkoholgeschwängerten Runde ließen wir vor kurzem das Thema „Sarrazin“ kreisen, man kommt ja nicht mehr vorbei an ihm und zudem kann ein jeder von uns auf einen mehr oder weniger ausgeprägten Migrationshintergrund verweisen: Mein Kollege, türkisch-stämmig im Aussehen und Namen, aufgewachsen im Schwabenländle, VFB-Fan, halb so schlimm also. Unser TomTom, wenn man ihn sieht könnte man meinen, er sei US-Amerikaner mit afrikanischen Wurzeln, aber nein, er wuchs in Obermenzing bei München auf, bayerisch spricht er besser als hochdeutsch. Und schließlich meine Wenigkeit, „der Schwede“, dessen Eltern aber aus Niederbayern bzw. Italien nach München migriert sind und sich für die Schöpfung meines Lebens verantwortlich zeigen (müssen).



Es wurden zunächst die üblichen Argumente ausgetauscht, dass Sarrazin ein Brandstifter sei, dessen Brandbeschleuniger mit eindeutig uneindeutigen Naziwortschatz daherkommen und entsprechende Reaktionen in den Medien erzeugen würden, vielleicht um einfach nur sein Buch zu vermarkten- was ihm wohl gelungen ist. Schließlich –und auch das war vorhersehbar- lenkten wir das Gespräch auf das Versagen der Politik, fehlerhafte Kommunalpolitik, der Status des „Gastarbeiters“, der wieder geht, wenn er seine Schuldigkeit getan hat, aber, hoppla, sich dann doch in Deutschland wohnlich einrichtet, wer hätte damit schon rechnen können?! Ehe das Thema uns in die historisch-philosophische Leere entgleiten konnte , Stichwort Völkerwanderung, Stichwort Kultur, schwenkten alle Beteiligten auf ihre persönlichen Erfahrungswerte ein, es wurden Anekdoten mit großer Tragweite erzählt, um Eindeutigkeiten zu signalisieren und es konnte dann auch nicht widersprochen werden, der alltägliche Rassismus, er ist existent, das kann man nicht verleugnen. Das Gespräch versandete entsprechend, ja, es gibt ein Problem, ja, die Politik ist schuld, irgendwie, und ja, das Problem ist alltagsrelevant.



Am Morgen danach fragte ich mich denn auch, wie Politik das lösen kann, wenn Diskriminierung schon im Mikrokosmos unseres Lebens virulent wird. Sprache, wichtig, keine Ehrenmorde etc., auch klar, aber sonst?! Bei der Sprache fallen mir nicht wenige deutschstämmige Landsleute ein, die nicht in der Lage sind, einen vernünftigen Satz zu artikulieren. Und Mord? Gemordet wird aus so vielen Gründen, keiner davon ist akzeptabel: Neid, Habgier, Eifersucht…beliebig fortsetzbar, aber im Unterschied zum Ehrenmord fehlt der „Kultur“-Index, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Irgendwann merke ich, dass sich meine Gedanken im Kreis drehen: kein Gesetz kann Diskriminierung verhindern, keine Verordnung kann Integration für alle allgemeingültig herstellen und frustriert frage ich mich, in was wir da eigentlich alle integriert sein sollen. Spontane Antwort: in eine Wertegemeinschaft. Aber welche Werte sollen das sein? Und: bin ich da selbst mit dabei?



Ich akzeptiere und bejahe die Freiheit des Einzelnen, denke ich, und stelle fest: damit bin ich nicht allein. Doch erleichtert kann ich mich nicht zurücklehnen, denn allgemeingültig ist dieser Wert nicht: Es gibt Menschen, die stellen die Gruppe, das Kollektiv, die Gemeinschaft über den Einzelnen, also kein Dach, unter das sich alle vereinigen können.

„Nun gut, ich trete ein für Solidarität“ schallt es durch meine Gehirnwindungen, vielleicht deutet das in Richtung Integration, aber nein, da gibt es Leute, die würden sagen, „Solidarität?! Aber nicht zu jeden Preis!“- und sie würden spiegelverkehrt auf die Freiheit des Einzelnen rekurrieren, ob mit Recht oder nicht will ich mir an dieser Stelle gar nicht ausmalen denn ich merke nur, wie wenig dieser Wert taugt, wirklich alle zu integrieren.

Okay, dann die Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung, Habermas und andere nannten das „Verfassungspatriotismus“, eine zweckrationale Haltung die ergo für wenig Gefühlswärme sorgt, aber immerhin. Aber da gibt es nicht wenige, die würden lieber heute als morgen die Diktatur, Monarchie, Oligarchie oder sonstiges bevorzugen, vielleicht weil es den Leuten dann einfach wieder „wärmer“ ums Herz werden würde bzw. sie das hoffen. Hilft hier also nicht weiter.



Wenn ich keinen für alle verbindlichen Wertekanon definieren kann, wenn es diesen schlichtweg nicht gibt, wozu dann Integration?! Wenn es kein Ziel gibt?! Wenn die Leitplanken fehlen?! Vielleicht deswegen, weil uns allein der Begriff bzw. das Gerede um „Integration“ uns bereits allesamt integriert: alle diskutieren mit, wenn auch in den unterschiedlichsten Kontexten, beispielsweise auf einer Grill-Feier. Was als Problem erscheint, ist dann gleichzeitig die Lösung. Keine Probleme also? Aber nein doch: mangelhafte Integration wird im Diskurs gerne festgemacht an fehlender Bildung und/oder Arbeitsplätzen. Da werden dann auch HartzIV-Empfänger gerne als Minderheit stigmatisiert. „Integration“ dient dann einerseits der Bezeichnung von Problemen, doch werden diese gleich wieder unsichtbar gemacht –unsichtbar (und gefährlich) deshalb, weil das ja angeblich nur Migrationsprobleme sind.



Man stelle sich nur vor, alle hätten eine halbwegs „vernünftige“ Arbeit und ein jeder könnte sich einmal im Jahr einen veritablen Urlaub leisten. Fraglich ob wir dann noch über „Integration“ sprechen würden. Aber irgendwo würde sich schon ein neues Problem finden, sonst könnten wir gar nicht mehr integriert werden, und sei es nur in den politischen Diskurs. Und auch darüber wird noch zu reden sein, nicht wahr?!

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