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Die Touristen von der Westbank

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Avi spricht seit Stunden. Ganz am Anfang, da war der Bus gerade in Jerusalem angerollt, hatte er etwas davon gesagt, dass er nicht allzu viel erzählen wolle, weil er parteiisch sei, dass ein jeder die Eindrücke auf sich selbst wirken lassen und sich sein eigenes Bild machen solle. Doch mit jeder Minute, die er sprach, ahnten mehr und mehr seiner Zuhörer, dass Avi das Mikrofon so schnell nicht wieder zur Seite legen würde. Er spricht wie einer, der Zeugnis ablegt, vielleicht ist es auch eine Art Beichte: Ja, ich war dabei. Ich habe das getan. Avital Stollar, 27, trägt rote Locken, müde Augen, ist zierlich und nicht besonders groß, und arbeitet für die Organisation „Schovrim Schtika“. Auf Deutsch bedeutet das: Das Schweigen brechen. Der Name ist gut gewählt, denn es geht nicht allein darum, dass israelische Soldaten von ihren Einsätzen in der Westbank berichten, sondern auch darum, das Schweigen in ganz Israel über die Besatzung der Westbank überhaupt zu brechen. 2004 wurde „Schovrim Schtika“ von ehemaligen israelischen Kampfsoldaten gegründet, die während ihres Militärdienstes im Westjordanland immer mehr Zweifel an der Art und Sinnhaftigkeit ihres Einsatzes hegten. „Schovrim Schtika“ sammelt Zeugenaussagen über die Drangsalierung von Palästinensern durch Soldaten, über Menschenrechtsverletzungen und über die Rolle der israelischen Armee im Siedlungsbau. Und sie fahren regelmäßig mit einem großen, klimatisierten Reisebus voller Touristen durch die Hügel rund um Hebron, um die Schauplätze und Mechanismen des Nahostkonfliktes zu erläutern.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Avital bei einer Führung. Eine klare Grenze zwischen dem palästinensischen und dem israelischen Teil Jerusalems kann man kaum mehr ziehen. In den vergangenen Jahren haben die Regierungen von Ariel Scharon und Benjamin Netanyahu die Siedlerbewegung im Herzen der palästinensischen Gebiete unterstützt und den Bau neuer Vorstädte rund um den früher arabischen Osten Jerusalems gefördert. Deshalb muss man sich in der hiesigen Geographie auskennen, um zu wissen, wann man die Grenze überschreitet, die die Vereinten Nationen 1967 als Trennlinie zwischen Westbank und Israel festgelegt haben. Nicht immer ist die Mauer zwischen den israelischen und den palästinensischen Gebieten so hoch wie an den Stellen, die häufig im Fernsehen zu sehen sind. Manchmal besteht die Grenze auch bloß aus einem Sicherheitszaun. Man braucht Menschen wie Avi Stollar, um zu verstehen, was man sieht. Und um zu verstehen, was man eben nicht sieht. Denn ohne seine Stimme sähe man einfach nur Häuser, Felder, Straßen, Dörfer und Mauern. Der Reisebus mit den Touristen fährt durch die trockene, aber malerische Landschaft von Samaria und Judäa, die in der Tagesschau nur „die Westbank“ genannt wird. Avi erzählt, wie sie zu seiner Zeit als Soldat immer wieder angewiesen wurden, bestimmte, aber zentrale Straßen für Palästinenser unzugänglich zu machen. Wie die 20-jährigen Soldaten denjenigen, die die Straße doch benutzten um ins Krankenhaus oder zur Verwandtschaft zu kommen, erst die Schlüssel wegnahmen und später die Startkabel aus den Autos ausbauten. „Wir taten das aus Hilflosigkeit, wir hatten ja Befehle – aber wir glaubten auch, dass es richtig sei“, sagt Avi. Und er erzählt davon, wie sie Yatta, eine Stadt im Süden des Westjordanlandes, wochenlang besetzt hielten oder wie seine Mannschaft einen nach langer Suche gefangenen und für viele israelische Tote verantwortlichen palästinensischen Terroristen demütigte und schlug. Und wie ihm immer mehr bewusst wurde, dass diese Einsätze nichts damit zu tun hatten, sein Land zu verteidigen. Wie er merkte, dass oftmals nicht die Soldaten, sondern die militanten Siedler das Sagen hatten. Und dass er, Avital, und seine Kameraden nur ein Instrument waren, um immer mehr Felder, Orte, Täler unter israelische Kontrolle zu bringen. Zum Beispiel Susiya. Das Dorf Susiya, ganz im Süden des Westjordanlandes gelegen, ist seit Jahren immer wieder Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen israelischen Siedlern und der israelischen Armee auf der einen und israelischen Menschenrechtsorganisationen und palästinensischen Bauern auf der anderen Seite. Vor allem die Anspannungen zwischen den Bewohnern der nach israelischem Recht illegalen Siedlung und den palästinensischen Hirten und Farmern der Gegend schafften es immer wieder in die Nachrichten: 2001 ermordete ein Palästinenser einen Siedler, woraufhin das israelische Militär im Anschluss die Gegend „aus Sicherheitsgründen“ räumte. Sechs Jahre später erlaubte ein israelisches Gericht die Rückkehr der Einwohner Susiyas in das, was von ihrem Dorf übrig geblieben war. Bis heute leben sie in Zelten und Ruinen. Im Sommer 2008 griffen maskierte Siedler hier einen palästinensischen Hirten auf dessen Weideland mit Baseballschlägern an. Da hatte die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem gerade Videokameras an die palästinensischen Familien verteilt. Die Bilder des brutalen Übergriffes gingen um die Welt. Jetzt fährt der Bus mit den Touristen auf Susiya zu. Die Türen öffnen sich.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Eine Aufnahme von unterwegs. Wenn Avi erklären soll, warum er sich überhaupt für den Einsatz gemeldet hat, wie er überhaupt zu einem Soldat wurde, der nun Touristen über die Vorkommnisse von damals aufklärt, dann erzählt er von seiner Familie. „Es war ein bißchen wie bei diesem Sergeant Dan aus Forrest Gump, der Typ, dem die Beine weggesprengt wurden und der erzählt, dass er seine Familie beschützen wollte – und dass sein Vater und Großvater auch Soldaten waren. Das ist im Groben auch meine Geschichte“, sagt Avi. „Mein Großvater war Soldat in der russischen Armee, mein Vater war Soldat und mein Bruder war während der Besatzung im Libanon. Der einzige Anlass, bei dem die Männer meiner Familie zusammen saßen und sich mit leuchtenden Augen unterhielten, war, wenn sie über ihren Militärdienst sprachen. Und da wollte ich dazugehören. Ich wollte das aber auch für mein Ego. Ich wollte zur Infantrie, ich wollte wie in einem Computerspiel mit einer Pistole durch ein Feld rennen und wollte mir beweisen, dass ich das kann. Aber natürlich auch aus Überzeugung: Ich habe wirklich geglaubt, ich müsse mich zum Kampfeinsatz melden, um meine Familie zu schützen. Ich wurde 2001 rekrutiert. Als ich zur Schule ging, wurden Busse in Tel Aviv, Haifa, Jerusalem und im ganzen Land in die Luft gejagt. Ich wollte auf keinen Fall zum Trittbrettfahrer und Schnorrer werden und das schöne Leben in Tel Aviv genießen, während meine Freunde sich in Lebensgefahr bringen.“ In Susiya sind nun alle aus dem Bus ausgestiegen. Dort, wo sich der große Nahostkonflikt im Kleinen spiegelt, sitzt nun eine Busladung Touristen am Ende einer Halbtagestour durch die Hügel von Hebron. Sie sitzen auf dem staubigen Boden und trinken süßen, heißen Tee aus kleinen Gläsern. Eine Amerikanerin, die etwas Arabisch spricht, unterhält sich gebrochen mit der ältesten Frau im Dorf. Andere schwärmen aus, schauen sich verstohlen um, fotografieren die Habseligkeiten, die geflickten Zelte und den Schmutz. Der Verdacht, dass der Nahostkonflikt hier gerade zu einer Sehenswürdigkeit wird, ist in einem solchen Moment nur schwer von der Hand zu weisen. Drei Skandinavier Anfang 20 fotografieren den Müll und den Staub und eine ärmliche alte Mutter. Ein Mädchen mit einem Button der „Grünen“ macht Bilder der ärmlichen Einrichtung in den Zelten. Bilder, die später im Urlaubsbilderalbum zwischen den Fotos vom Toten Meer, der Klagemauer und dem Strand von Tel Aviv zu sehen sein werden. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand den Nahostkonflikt auf die touristische Landkarte setzt. Wer durch die Altstadt von Jerusalem läuft, sieht zuhauf Läden mit T-Shirts, die den Konflikt meist sehr sarkastisch kommentieren. Und solange der Nahostkonflikt so schlagzeilenträchtig bleibt, wird das Interesse bestehen bleiben. „Vermutlich ist es schon so, dass viele auf unsere Touren kommen, um sich das anzusehen, was sie aus dem Fernsehen kennen“, sagt Avi Stollar. „Aber mir ist letztlich egal, warum die Leute zu uns kommen – mir ist wichtig, dass sie etwas mitnehmen. Dieses Wissen ist wirklich wichtig. Man kann keine Lösung diskutieren, wenn man nicht die Tatsachen kennt. Diese Tatsachen zu vermitteln – das ist unsere Aufgabe.“ Später hält der große Reisebus nach nur zwanzigminütiger Rückfahrt wieder am oberen Ende der Jaffa Road in der Jerusalemer Innenstadt. Die Reisegruppe zerstreut sich. Manche stehen noch eine Weile an der Bushaltestelle und diskutieren. Andere machen sich direkt auf in die Altstadt, Souvenirs kaufen.

Text: daniel-erk - Fotos: Daniel Erk

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