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Ein Traum wird kommen

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Das Schiff hatte uns nur einen symbolischen Preis von sechs dänischen Kronen gekostet und war 102 Jahre alt. Jahrelang hatte es auf einer Insel an Land gestanden, bis es einer von uns entdeckte. Wir waren zu zehnt, ungefähr, und hatten einen gemeinsamen Traum: Wir wollten dieses Schiff aufbauen. Es war 1998, ich lebte in Lübeck und war damals gerade mit der Schule fertig. Eigentlich hatte ich Pläne, die meinen Eltern ganz gut gefielen. Ich wollte in England an einer angesagten Universität Politikwissenschaft studieren. Ich war ziemlich ehrgeizig damals. Das Projekt mit dem Schiff sollte eigentlich nur eine Auszeit werden, ein Jahr, maximal, zwischen Schule und Studium.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wir haben ein Jahr mit Vollkornbrot und Kräutertee in muffigen Räumen von Jugendzentren verbracht und nächtelang diskutiert: Wie können wir ein Schiff betreiben und finanzieren, das nur noch aus Rost besteht? Es sollte kein Spassfahrzeug für uns sein, sondern ein Ort für politische Aktionen, aber auch für Klassen- und Freizeitreisen. 36 Meter lang. Kojen für 30 Leute. Es sollte wirtschaftlich fahren, sich selber finanzieren. Die anderen waren älter als ich und ich habe sie für ihre Zielstrebigkeit bewundert, für die Diskussionen, in denen es, zum ersten Mal in meinem Leben, wirklich um etwas ging. Wir haben so viel diskutiert, dass wir uns genauso gut auch hätten zerstreiten können. Irgendwie haben wir aber immer wieder die Kurve gekriegt, das Schiff vor Augen, das wir bauen wollten. Wir haben einen Kredit und viele kleine Darlehen aufgenommen. Niemand von uns hatte Geld oder Sicherheiten, aber wir fanden eine kleine Bank, die uns vertraute. Wir überredeten Eltern, Freunde und Bekannte, uns Privatdarlehen zu geben. Wir haben das Schiff in eine Werft geschleppt. Ich habe bei Firmen angerufen und nach Spenden gefragt. Schraubenspenden. Korkspenden für die Isolierung. Sicherheitsmittel. Ich habe immer wieder den gleichen Spruch aufgesagt, von unseren Plänen erzählt. Ich hatte mir für dieses Schiff ein Jahr gegeben. Als es um war, lag es auseinander genommen auf der Werft in Stettin. Einerseits sah es aus wie ein gestrandeter Käfer, andererseits schimmerten hinter all dem rostigen Stahl schon Segel, Masten und Farbe auf. Mir war klar, dass ich kein Studium beginnen könnte, ohne mitgefahren zu sein. Ich holte tief Luft und fragte den zukünftigen Skipper des Schiffes, ob ich Bootsfrau werden könne. Ich weiß noch, wie ich am Telefon saß und meinen Worten im Hörer hinterher horchte. Er sagte „ja“ und dann: „Aber zieh dir schon mal Arbeitshosen an.“ Eine Bootsfrau ist so etwas wie ein Matrose; diejenige, die mit den Gruppen an Bord Segel setzt und birgt, steuert, Glühbirnen wechselt, Wasser tankt, Strom legt. Ich zog nicht nur Arbeitshosen an, sondern schnitt mir meine Haare kurz und kaufte ein Lehrbuch über Seeschifffahrt. Das Schiff selbst war immer noch nicht mehr als ein Rumpf. Eine Hülle: keine Masten, keine Segel, keine Kojen, keine Küche. Eine Schale aus Stahl. An zwei sonnigen Septembertagen schleppten wir das Schiff von Stettin nach Greifswald, wir zogen es einfach hinter einem anderen her. Greifswald war damals eine Stadt im Umbruch, überall unsanierte Gründerzeithäuser, von denen der Putz an den Fassaden abbröckelte. Wenn man im Winter am Bahnhof aus dem Zug ausstieg, roch man den Kohledunst, der die Stadt einhüllte. Ich schlief die nächsten Monate in dem ungenutzten und ungeheizten Arbeitszimmer eines Freundes auf einer Isomatte auf dem Fußboden und lebte von dem Kindergeld, das mir meine Eltern jeden Monat überwiesen. Außer all den kaputten Häusern gab es in Greifswald eine Menge Freiräume. Zum Beispiel eine alte Werft mit eingestaubten Maschinen, die wir reparieren und nutzen konnten. Ich habe weder vorher noch hinterher jemals wieder so hart gearbeitet: geflext, gemalt, geschraubt. 12, 13, 14 Stunden am Tag. Wir hatten einen Kredit aufgenommen, den wir so schnell wie möglich wieder abbezahlen mussten und darum die erste Reise auf dem Schiff schon verbucht. Die Werft hatte uns eine leere Hülle überlassen. Da standen wir also und hatten acht Monate Zeit, daraus ein Segelschiff zu machen. Nicht alle haben geglaubt, dass wir es schaffen würden. „Das wird doch nie was“, haben viele gedacht und auch gesagt. Es gab sogar Gruppen, die ihre Reservierungen wieder zurückzogen. Ich dachte nur: Zusammen schaffen wir es.

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Im März 2000, eine Woche vor der Schiffstaufe, standen dann das erste Mal die frisch gezimmerten Masten. Die Taufe war ein rauschendes Fest mitten in einer Kette von endlos langen Arbeitstagen. Ein Moment zum Innehalten und Luftholen. Dann das erste Segelsetzen mit einem riesigen, ungebändigten Großsegel. Die erste Nachtfahrt mit rauschender Bugwelle. Segel, über denen Sterne glitzern. Das erste Mal Starkwind. Die erste Saison auf dem Schiff: eine Aneinanderreihung von Tagen auf dem Wasser, von Möwenkreischen, von Segelsetzen und -bergen. Wir fuhren nach Polen, Litauen, Finnland und Schweden. Ich habe mich frei und stark gefühlt. Am Ende der Saison, als die Herbstnebel über den Greifswalder Bodden krochen und die Sonne immer früher unterging, war mir klar, dass ich das Schiff noch nicht verlassen konnte. Mittlerweile konnte ich Segel setzen, navigieren, das Schiff steuern. Aber so vieles hatte ich noch nicht gelernt. Ich wollte das Meer noch nicht mit dem Hörsaal tauschen und verbrachte noch ein Jahr auf dem Schiff. Am Ende der zweiten Saison saß dann ein anderes 19-jähriges Mädchen mit leuchtenden Augen auf dem Achterdeck und fragte, was sie tun müsse, um Bootsfrau zu werden. Ich begann ein Studium in Greifswald und zog in eines der alten Häuser mit dem abbröckelnden Putz. Diese Geschichte ist zehn Jahre her. Im Oktober 2010 feiern wir den Geburtstag der Lovis, wie wir das Schiff genannt haben. Der Kredit ist abbezahlt, das Schiff fährt immer noch. Wir haben mit der Lovis Großbritannien umrundet und waren in der Arktis. Wir haben vor Gletschern geankert und an einsamen Schäreninseln. Wir haben in St. Petersburg und in der Dänischen Südsee angelegt. Wir waren auf dem Kopenhagener Klimagipfel und haben gegen Überfischung und Wasserverschmutzung, für offene Grenzen und transnationale Jugendarbeit protestiert. Von März bis Oktober nutzen Gruppen die Lovis, jede Gruppe für ihren eigenen Zweck, mit einer eigenen Idee. Manche Fahrten organisieren wir selber, für andere werden wir gebucht. Wir fahren mit Schulklassen, Umweltaktivisten oder Kegelbrüdern. Wir fahren von März bis Oktober, durchgehend, jedes Jahr etwa 6000 Seemeilen. Was genau das Schiff ist, ändert sich mit den Menschen, die es betreiben. Zu unserem Jubiläum kommt der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, es spielt aber auch eine anarchistische Theatercombo. Wären wir damals mit unserer Idee gescheitert, was wäre dann passiert? Ohne dieses Schiff würde ich heute wohl eher abwinken, wenn jemand eine ungewöhnliche Idee hat. Ohne das Schiff würde ich woanders wohnen, etwas anderes arbeiten, mir weniger zutrauen. Das Leben mit den anderen, mit der Lovis hat mir beigebracht, Verantwortung zu übernehmen, Situationen durchzustehen, zu streiten, anderen zu vertrauen. Es hat mir Freunde geschenkt. Das Schiff lehrt einem Handwerk und Naturgesetze: Wenn ich ein Loch bohre, muss ich die Bohrmaschine gerade halten. Wenn ich Segel bergen will, muss ich in den Wind gehen. Ich glaube, dass die gemeinsame Anstrengung, die der Aufbau des Schiffes gewesen ist, abfärbt auf die Menschen, mit denen wir fahren. Natürlich hat sich die Lovis verändert. Mittlerweile sind wir nicht mehr zu zehnt, sondern 25. Aber einiges ist geblieben. Immer noch sitzen wir nächtelang zusammen und diskutieren. Immer noch geht es eigentlich um mehr als ein Schiff. Immer noch ist das Schiff ein schwimmender, wahr gewordener Traum. Schreib’ eine Mail an muetze@jetzt.de und erzähl’ uns von deinem Traum, von deinem Projekt – die spannendsten Erfahrungen stellen wir vor.

Text: anke-luebbert - Fotos: privat/lovis.de

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