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„Wenn es eskaliert, sind wir gescheitert!“

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In dem weißen Steinhaus im Zentrum San Cristóbals de las casas riecht es nach frischem Kaffee. Sonnenlicht flutet die große Eingangshalle. Es wird ein heißer Tag werden. Das ist schon morgens auf der Dachterrasse spürbar, wo sechs junge Leute frühstücken. Sie lachen laut und scherzen über letzte Nacht, die Party im Nachbarhaus. Ihr Spanisch ist fließend. Dennoch sieht man ihnen an, dass sie in Mexiko nicht zu Hause sind. Helle Haut, helle Haare: Deutsche, Niederländer, ein Israeli – Freiwillige im Einsatz für die Menschenrechte an ihrem freien Tag. Clara sitzt abseits. Ihre blonden Haare hat sie locker zu einem Dutt geknotet und umklammert noch müde ihre Kaffeetasse. Mit ihren 21 Jahren ist sie die Jüngste im Haus. Vor zwei Tagen kam sie von ihrem ersten Einsatz in El Progreso zurück, einem Dorf, mitten im Gebirge. 16 Familien leben in der Gemeinde, die 1998 von regierungsnahen Paramilitärs völlig zerstört wurde. Heute ist es ruhig dort. Soldaten sind noch präsent, Spannungen gibt es aber nicht. Zusammen mit zwei anderen Freiwilligen wohnte Clara zwei Wochen lang in einer Holzhütte. Ihre Aufgabe: Militärs beobachten. Wie gehen sie mit der indigenen Bevölkerung um? Wahren sie die Menschenrechte, kommt es zu Übergriffen? Sehen und gesehen werden: „Es geht darum, den Militärs und der Regierung klar zu machen: Wir sind da, wir schauen nicht weg.“ Das fiel ihr am Anfang schwer, unter der permanenten Präsenz der bewaffneten Soldaten. Uniformen und Maschinengewehre gehören für sie nicht in eine Stadt. Eingreifen, wenn etwas passieren sollte, darf sie nicht. „Aber wenn es in den Dörfern eskaliert, ist unsere Arbeit sowieso gescheitert.“ Gedankenverloren starrt sie vor sich hin, nimmt einen Schluck Kaffee. Die letzten zwei Wochen waren kräfteraubend. „Du stehst unter enormem Druck. Einerseits weißt du, was damals gelaufen ist, hörst es immer wieder von den Einheimischen. Dann denkst du: Gut, dass du da bist. Anderseits fragst du dich aber auch: Interessiert es wirklich jemanden, dass ich da bin? Was, wenn sie doch wieder die Waffen auf das Dorf richten, wer macht dann Halt vor einer kleinen Deutschen?“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Hintergrund der Spannungen ist ein Konflikt, der schon viele Jahre währt. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung Mexikos sind indigen. Sie leben ihre Traditionen fernab von Konsum, Industrie und Globalisierung. Sie sind Bauern, Selbstversorger und praktizieren Medizin nach alter Mayaweisheit: Heilkräuter statt Antibiotika. Der Großteil von ihnen lebt im fruchtbaren Südstaat Chiapas. Bei der mexikanischen Regierung finden sie kaum Rückhalt. So wurden beispielsweise alle Wasserstellen in Chiapas an Coca Cola verkauft. Indigene Bauern haben nun keinen Zugang mehr zu kostenlosem Wasser, was ihr Leben erheblich erschwert. Anfang der 1990er Jahre formierte sich die „Nationale Zapatistische Befreiungsarmee“, die 1994 den bewaffneten Aufstand erprobte. Die Zapas, wie sie sich selbst nennen, kämpfen für Autonomie der indigenen Gemeinden, für eine Landreform, soziale Gerechtigkeit und für demokratische Wahlen. Die mexikanische Regierung setzte auf Militarisierung statt auf Diplomatie und schickte Soldaten nach Chiapas. 70 000 sollen es mittlerweile sein, genaue Zahlen sind schwer zu finden. Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu Morden und bewaffneten Übergriffen, Vertreibung, Vernichtung von Ernten und zur Zerstörung von ganzen Gemeinden, wie im Falle El Progresos. Unter diesen Vorzeichen ist der Einsatz der Freiwilligen nicht ungefährlich. Clara hat lange überlegt, bevor sie ihre Bewerbung für das Projekt abgeschickt hat. Sie hat sich gefragt, was das Engagement Einzelner bringen kann, ob sich das Risiko lohnt. Sie hat sich gegen die Bedenken ihrer Familie gestellt. Letztlich war es ihr Glaube an die Gerechtigkeit, der die Zweifel besiegt hat. „Sicher kann ich allein nicht den Frieden hier herbringen. Aber soll ich deswegen zu Hause rumsitzen? Dann lieber in kleinen Schritten. Jeder soviel er kann.“ Und Clara kann ziemlich viel: Sie finanziert den Aufenthalt selbst, hat lange gespart für Flug und die Reisevorbereitungen. Warum sie das mache, haben Kommilitonen gefragt. Warum nicht lieber für einen Urlaub sparen, eine neue Hose, Laptop? „Ich bin eben Idealist“, sagt sie. Das klingt überzeugt. Koordinator ihres Freiwilligendienstes ist die unabhängige Menschenrechtsorganisation Fray Bartolomé de las Casas (Freyba) der Diözese San Cristóbal. Bei deren deutscher Partnerorganisation Carea e.V. besuchte Clara zwei Vorbereitungsseminare. Rollenspiele und Vorträge gaben ihr und anderen Teilnehmern einen Einblick in mexikanische Geschichte, den zapatistischen Aufstand, Verhaltensregeln und Menschenrechte. „Nach dem ersten Seminar war ich kurz davor alles hinzuschmeißen. Du wirst immer wieder darauf hingewiesen, dass du auf eigene Verantwortung fährst und dass die Einsätze lebensgefährlich sein können.“ Zwar sind die Freiwilligen im Wissen der Regierung im Land, dennoch versuchen sie, so unauffällig wie möglich zu sein. Deshalb ist hier im Text Claras wirklicher Name geändert. Und deswegen wohnt sie in dieser Herberge, die nur für Freyba-Teilnehmer offen ist. „Überall sonst müssten wir uns Geschichten ausdenken, was wir hier machen, wer wir sind, wie wir arbeiten.“ Und trotzdem: Schon jetzt, sagt Clara, habe sie mehr gelernt, als in den zwei Semestern Lateinamerikastudien an der Uni Köln. In El Progreso war sie Teil der Gemeinde. Sie verbrachte ihre Tage mit den Familien, spielte mit Kindern, half bei der Bohnenernte und beim Tortillabacken. „Klar sind wir in erster Linie Menschrechtsbeobachter. Aber das Leben mit den Familien hat mich tief beeindruckt. Plötzlich wird all das, worüber wir uns in Deutschland den Kopf zerbrechen, irrelevant. Du lebst dort mit Leuten, die nicht lesen können, aber trotzdem glücklich sind. Weil sie ihr Leben genießen, auf ihre Art. Ohne Radio, Fernsehen und Internet.“ Nun hat sie erstmal eine Woche Pause, dann geht sie in das nächste Dorf. Wieder ohne Strom und spartanisch untergebracht auf einer Holzliege. Ist das die Arbeit, die sie sich vorgestellt hat? „Ich hatte keine konkrete Vorstellung. Der erste Einsatz war für mich aber Ansporn genug, weiterzumachen. Ich bin nicht zum letzten Mal hier.“ Anne Fromm ist 23 Jahre alt und Studentin der Sozialwissenschaften in Leipzig. Derzeit hält sie sich für ein Praktikum am Goethe-Institut in Melbourne auf.

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