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Unter der Brücke klaut niemand

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Sie steht da und wartet. Es ist ungewöhnlich kalt für einen Tag im Mai und Angelikas Nase ist schon ganz rot und tropft. Fröstelnd tritt die 23-Jährige von einem Fuß auf den anderen. Dreht sich eine Zigarette, wirft die herunter gebrannte Kippe weg. Noch immer keiner da. Sie könnte nach einem Kommilitonen Ausschau halten – in den Röhrenjeans und dem Parka sieht sie aus wie eine von tausend Soziologie-Studenten. Aber Angelika ist keine Studentin. Sie ist obdachlos und wartet darauf, dass ihr jemand die Straßenzeitung abkauft.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Angelikas Tag beginnt in der Redaktion der Hamburger Straßenzeitung „Hinz&Kunzt“. Das Magazin ist Arbeitgeber und Anlaufstelle für rund hundert Obdachlose in der Stadt. Im Aufenthaltsraum ist Angelika umringt von alten, kranken, mitunter verwahrlosten Männern. Das junge Mädchen mit dem freundlichen Blick und den Rastazöpfen fällt in der Herrenrunde sofort auf. Ihre Zähne sind weiß, ihre Augen wach - im Gegensatz zu ihren Sitznachbarn ist sie sehr gepflegt. 130 Obdachlose unter 25 Jahren gibt es allein in Hamburg. Seit drei Jahren gehört Angelika dazu, vor einem Jahr kam sie zum ersten Mal hier her. Seitdem verkauft Angelika die Obdachlosenzeitung. Für 80 Cent kann sie ein Exemplar kaufen, für 1,70 € weiterverkaufen und macht so 90 Cent Gewinn. Ausgestattet mit offiziellem „Hinz&Kunzt“-Ausweis inklusive Verkäufernummer kann sie sich wann und solange sie will an den festgelegten Platz stellen. „Bei schönem Wetter kommt die Sonne genau hier und nur hier hin“, sagt sie über die kleine Freifläche zwischen Mobilfunk-Shop und Modehaus. Mehr als vier Hefte auf einmal aber kauft sie nie – auch die muss man ja erstmal verkaufen. Und das macht Angelika nur, wenn sie Geld braucht. 359 Euro bekommt Angelika jeden Monat - abzüglich der Schulden für mehrmaliges Schwarzfahren. „Dieses blöde Hartz IV ist ja immer gleich weg. Und das Dümmste: Wenn du zwei Wochen nix hast, dann freuste dich so über das Geld auf dem Konto, dass du es gleich wieder verprasst!“ Dabei ist es Glück, dass Angelika überhaupt Unterstützung erhält: Wer unter 25 Jahre ist, wurde mit Hartz IV festgelegt, der kann auch zuhause wohnen. Um das Geld dennoch zu erhalten bedarf es einer schriftlichen Erklärung der Eltern, zu denen häufig kein Kontakt besteht. Deshalb nimmt die Zahl junger Obdachloser seit 2005 zu. Denn ohne Eltern kein Geld und ohne Geld keine Wohnung, keine Struktur. Angelika, immerhin, hat noch Kontakt zu ihrer Mutter, die Erklärung bekam sie ohne Probleme. Ihre Mama, sagt Angelika, hätte natürlich Angst. Dennoch würde sie ihr Kind immer wieder aufnehmen. „Manchmal fühle mich richtig mies, weil ich ja gar nicht obdachlos sein müsste.“ Ein halbes Jahr habe sie noch bei ihrer Mutter gewohnt. „Aber das war so, so wahnsinnig eng!“ Unentwegt grüßen Mitarbeiter und Obdachlose das Mädchen, freundlich grüßt Angelika zurück. Das Büro der „Hinz&Künztler“ ist wie eine schützende Höhle mitten im Dschungel: Rings um ist die City mit Bankenviertel, Einkaufszentren, Verlagshäusern. Keine 500 Meter muss sie laufen, schon sticht Angelika heraus aus der eilenden Masse. Immer wieder treffen sie die bohrenden Blicke eleganter Damen, schicker Herren. Ob sie Drogen nimmt, darüber will Angelika nicht reden. Immer wieder verliert sich ihr Blick ins Leere. Immer dann, wenn sie von ihren guten und schlechten Tagen spricht. „Da ging's uns nicht so gut“ oder „gerade sind wir total gut drauf“ „Wir“, das sind sie und ihr Freund Sebastian. Seit drei Jahren sind die zwei ein Paar; mit ihm begann das Leben auf der Straße. Wenn möglich, verkaufen die zwei zusammen. Sebastian ist 23 Jahre und ist, das steht fest, auf Methadon. Zurzeit wartet er auf einen stationären Therapieplatz. Mit 16 Jahren ist er Zuhause rausgeflogen, 10. Klasse abgebrochen, herumgezogen. Drogen, Diebstahl, Knast. „Dabei hatte ich immer nur Einsen!“ Sebastian leidet an ADS. Vor drei Jahren, im Internet, traf er auf Angelika. „Ich hatte so keinen Bock auf dieses Leben. Mit den ganzen Muttis auf Arbeit, mit denen konnte man sich nie unterhalten“, sagt Angelika rückblickend. Großhandelskauffrau hat sie gelernt, bei einem bekannten Mode-Katalog. Als klar wurde, dass sie in ihren Wunsch-Posten nicht übernommen würde, kündigte sie. Reiste durch Neuseeland, ganz allein. Putzte Hostel-Zimmer, konnte so kostenlos übernachten. Sie fand Gefallen an dieser Art zu leben. Wieder Zuhause lernte Angelika dann Sebastian kennen. Ohne ihn zuvor gesehen zu haben, fuhr sie zu ihm. Und kam nie wieder richtig zurück. Zusammen mit ihrem Freund kommt sie zurzeit in einem Asylheim unter, „aber dort stinkt's fürchterlich“. Außerdem wird Hinz&Kunzt Mittags von der Tafel beliefert, auch deshalb ist sie hier so oft es geht. Am liebsten würden sie und Sebastian ihre Sachen packen und durch das Land reisen, erzählt Angelika. Auf Partys und Goa-Festivals gehen, im Zelt schlafen und in der Sonne liegen. So wie damals das Backpacken in Neuseeland. „Platte machen“, also auf der Straße wohnen, sei gerade am Anfang eigentlich richtig schön, beinahe romantisch gewesen, erinnert sich Angelika. Unter einer Brücke im Stadtteil St. Pauli sei es sogar so, dass man seine Habseligkeiten tagsüber stehenlassen könne. „Da klaut keiner.“ Individuelle Freiheit und zugleich eine Gemeinschaft, die sich um einen sorgt - Angelika hat sich mit dem Leben auf der Straße arrangiert. Sie hebt die Vorteile heraus, versucht die Nachteile zu verdrängen. Es gibt dann nämlich doch einen Unterschied zwischen dem Leben im Zelt auf Neuseeland und dem Schlafsack unter einer Brücke in Hamburg. Den Winter zum Beispiel - bei Minus 10 Grad ist Wild-Campen als andere als romantisch. Trotzdem sagt Angelika: „Vom Amt abhängig zu sein, das ist das Schlimmste.“ Das allein sei der Grund, weshalb sie selbst Geld verdienen möchte. Sie brauche nicht viel, nur ein bisschen was. „Für Klamotten und Musik und so.“ Beide wollen, sagen sie, mehr als nur irgendwie leben. Ihr Traum ist es, in einem besetzten Haus zu wohnen. Mit Garten und Leuten, die kreativ und produktiv sind. „Was bewegen“, wollen Angelika und Sebastian. Vielleicht fällt es ihnen deshalb so schwer, überhaupt, irgendwie, damit anzufangen. „Ich würde gern studieren, Philosophie vielleicht“, sagt Angelika. Ihre Unentschlossenheit ist ihr unangenehm. Sebastian beruhigt die Information, dass man auch mit 30 das Abi nachholen und sich für die Uni bewerben kann. Nach acht Jahren ohne Wohnung hat er genug, betteln gehen kann er gar nicht mehr. „Das ist zu demütigend.“ Beide wissen, wohin sie wollen. Weg von der Straße. Nur das wie und dieses „dann aber auch wirklich!“ schreckt sie mehr ab. Ich bin noch nicht bereit dazu – zu viele Sorgen, sagen die zwei über sich. Eine Arbeit finden, oder wenigstens mal die Eltern besuchen? Ja, aber noch nicht jetzt. Woher diese Lebensangst kommt, lässt sich aus Angelikas Aussagen nicht erschließen. Sie reibt ihre Hände gegeneinander als wäre ihr kalt, sobald es um ihre Zukunft geht. Kratzt sich am Kopf, schaut zu Boden. „Die Psyche“, sagt sie dann, „bei mir hat das mit der Psyche zu tun“. Schulterzucken, Themawechsel. Eine knappe Stunde steht Angelika an diesem Nachmittag auf Hamburgs Shopping-Meile. Schnorrt Zigaretten, bekommt einen Euro zugesteckt. Sie verkauft nicht eine Zeitung. Für einen Augenblick bleibt ein älterer Mann stehen. Das sei doch das Elend der Straße, sagt er kopfschüttelnd und geht weiter.

Text: steffi-hentschke - Foto: Julia Kneuse

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