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Meine Theorie: Einmal im Jahr Elternbesuch reicht!

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Ich liebe meine Eltern. Das tue ich wirklich. Schließlich handelt es sich bei ihnen um herzensgute Menschen, die immer für mich da waren, stets das Beste für mich wollten und mich nach bestem Wissen und Gewissen großgezogen haben – und das war auch nicht immer ein Zuckerschlecken. Dennoch habe ich das Credo vom „Lieben heißt auch loslassen können“ bei niemandem sonst so sehr verinnerlicht wie bei ihnen. Das tut mir Leid, ich fühle mich schlecht deswegen. Aber es ändert weder etwas an dieser traurigen Tatsache, noch an der mickrigen Anzahl meiner Heimatbesuche. Die Gründe dafür will ich gerne erklären. Sobald ich die Kleinstadtgrenze meines Herkunftsortes überquert habe, fühle ich mich jedes Mal zurückgebeamt in ein altes Leben, das schon lange nicht mehr meines ist. Andere Leute mögen sich dort von der Hand der Nostalgie sanft über den Kopf gestreichelt fühlen, mich hingegen boxt die faltige Faust der Vergangenheit stets zurück. Zurück in den Kampf gegen viel zu hohe Erwartungen, mangelnde Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und unerfüllte Träume. Es ist eine abstruse Mischung aus Fremd- und Vertrautheit, die mich zuhause jedes Mal aufs Neue überkommt – das Aufeinandertreffen mit meinen Eltern inklusive. Zwar nimmt man sich bei der Begrüßung stets liebevoll in den Arm, aber dann smalltalkt man doch bloß wieder nur über das Reisewetter, das allgemeine Wohlbefinden und die Arbeit. Beim Essen werde ich dann über die neuesten Entwicklungen in den Leben von Menschen in Kenntnis gesetzt, an die ich seit meinem letzten Elternbesuch nicht mehr gedacht habe und die ich auf der Straße niemals wiedererkennen würde. Und während mein Vater jedes Mal aufs Neue die verkratzte Platte seines selbstgeschriebenen Kalauerprogramms auflegt und meine Mutter erfolglos versucht, durch unauffällig wirkende Suggestivfragen etwas über mein Leben seit meinem Auszug herauszufinden, mache ich schon wieder vollkommen zu und zähle in Gedanken bereits die Minuten bis zur Abreise. In der Folge redet man dann mit einer fast schon beängstigend wirkenden Routine konsequent aneinander vorbei, und im stillschweigend getroffenen Einvernehmen ist das irgendwie auch für alle Beteiligten okay. So müssen sich meine Eltern nicht die Mühe machen, mich wirklich mal zu fragen, wie es mir geht, und ich muss mir keine Blöße geben und es ihnen erzählen. Man muss es wohl einfach akzeptieren: Es gibt weder eine gemeinsame Sprache noch gemeinsame Interessen. Und weil sich binnen Sekunden nach meinem Überschreiten der heimischen Türschwelle wieder jeder in seiner ihm zugeteilten Rolle wiederfindet, ist das eben alle Jahre wieder bloß anstrengend, nervig und vorhersehbar. Die Lust auf so einen Trip nach Hause schürt das jedenfalls nicht. „Die meinen es doch nur gut“, höre ich immer wieder von Freunden, wenn ich ihnen einmal im Jahr in wenigen Sätzen vom Kurzbesuch bei meinen Eltern erzähle. Und sie haben sicherlich recht damit. Aber gut gemeint ist eben das Gegenteil von gut, und daher kann ich solchen Heimreisen leider nach wie vor nicht sonderlich viel abgewinnen. Aber es tut mir immerhin leid und ich fühle mich schlecht deswegen. Besuchen werde ich meine Eltern deshalb trotzdem wohl nicht vor Weihnachten. Aber ich glaube, ich rufe sie nachher mal wieder an und frage nach den neuesten Entwicklungen in den Leben von Menschen, deren Namen mir gerade entfallen sind.

Text: daniel-schieferdecker - Foto: jockelo / photocase

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