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Die Vielfalt der Vielfalt. Gentleman im Interview

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

jetzt.de: Dein Album heißt „Diversity“ und musikalische Vielfalt ist sicherlich eine gute Sache. Man kann dadurch aber auch Gefahr laufen, eine Platte zu verwässern. Wie bist du diesem Problem entgegengetreten? Gentleman: Ich habe die Songs zu jeder Zeit gespürt, und solange das der Fall ist, verwässert auch nichts. Ich sehe mich auf der Platte selbst als roten Faden und musste daher nicht in Genres denken, wie es die hiesige Reggae-Polizei oft tut. Auf dem Album spiele ich zum Beispiel mit einigen Europopsounds und musste mir deshalb bereits anhören, dass ich doch bitte bei den Roots bleiben und nicht so ein Großraum-Disco-Gedöns machen solle. Dabei sind das genau die Einflüsse, die man derzeit in Jamaika hört. In Deutschland haben die Leute leider viel zu oft Berührungsängste mit anderen Genres, zu häufig Scheuklappen auf und sind zu kopflastig. Musik ist aber eben keine Kopf-, sondern eine Herzensangelegenheit. Das haben hier leider immer noch nicht alle begriffen. Steht sich die hiesige Reggae-Szene damit selbst im Weg? Na klar, denn vieles darf einfach nicht gemacht werden. Irgendwann führt das zwangsläufig zu einem Stillstand. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern habe ich manchmal das Gefühl, dass hier häufig der richtige Spirit fehlt. Zu deinem letzten Album hattest du angemerkt, dass du keinen Bock mehr auf Oberflächlichkeiten hast und lieber noch mehr in die Tiefe gehen möchtest. Nun gibt es auf „Diversity“ allerdings auch ein paar eher leichte Nummern. Heute sehe ich das auch anders. Nicht jeder Song muss eine Message haben, manchmal stehen andere Dinge im Vordergrund. Musik soll bewegen, egal ob körperlich oder geistig. Denn was nützt dir der tollste Text der Welt, wenn dir das musikalische Grundgerüst und die Melodie fehlen, damit die Leute dir zuhören? Du hast auf dem Album mit vielen verschiedenen Künstlern wie Tanya Stephens, Sugar Minott, Patrice und Christopher Martin zusammengearbeitet. Ich nehmen an, dabei lief auch viel über das Internet - einem Medium dem du eher kritisch gegenüberstehst, oder? Ich nutze die Vorteile des Internets natürlich auch, aber man darf dabei den Bezug zur Realität nicht verlieren. Man muss die Flut an Informationen richtig zu filtern wissen, und dabei spreche ich auch in meiner Rolle als Vater. Zu meiner Zeit gab es eben nur drei Fernsehprogramme, die Herausforderungen sind heutzutage ganz andere. Ich sehe auch das kommunikative Miteinander mit kritischen Augen, weil der intensive Austausch durch das ständige Mitteilen von Lappalien auf der Strecke bleibt. In Cafés sitzen die Leute doch bloß noch alleine vor ihren Blackberrys und Laptops und pflegen ihre sozialen Kontakte via Myspace und Facebook, anstatt sich gegenseitig in die Augen zu schauen und sich zu unterhalten. Eine gewisse Skepsis gegenüber solchen Entwicklungen ist daher durchaus angebracht. Was tust du denn konkret, um deinem 9-jährigen Sohn das nötige Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit den Neuen Medien mit auf den Weg zu geben? Ich zeige ihm vor allem Alternativen auf, gehe mit ihm zum Beispiel in den Wald und baue ein Baumhaus. Natürlich kann man meine Jugend nicht mit seiner vergleichen, aber ich war früher lieber draußen als vor der Glotze. Oft ist das Abtauchen in virtuelle Welten ja eine Flucht aufgrund von Langeweile und Perspektivlosigkeit. Ich versuche einfach, für meinen Sohn da zu sein, an seinem Leben teilzuhaben und seine Kreativität zu fördern. Und wenn man das schafft, gibt es für Eskapismus auch keinen Grund mehr. Du bist ein sehr spiritueller Mensch, glaubst an Gott, jedoch nicht an Religion. Warum trennst du das? Gott ist meiner Ansicht nach nur eines von vielen Modellen für das Gute im Menschen, und daran glaube ich. Aber man braucht sich ja nur einmal die Nachrichten anschauen um zu sehen, was organisierte Religion alles anrichten kann – ohne dabei jemandem zu nahe treten zu wollen. Natürlich geben Religionen auch vielen Leuten Halt, aber sie sind eben auch der Grund für einen Israel/Palästina-Konflikt oder Selbstmordattentäter, die nach Jungfrauen schreiend in Hochhäuser fliegen. Wenn man mit sich selbst im Einklang ist, dann muss Religion nichts Schlechtes sein. Aber Religion bedeutet für viele Menschen eben auch, mit erhobenem Zeigefinger missionieren zu wollen und fanatisch zu sein. Und das ist genau der Punkt. Ich persönlich kann da für mich nichts herausziehen, obwohl jede Religion wahrscheinlich einen guten Kern hat. Aber das ganze Drumherum birgt einfach zu viele Gefahren. Dein Vater ist Pastor. Wie steht der denn dazu? Er kann meine Gedankengänge durchaus nachvollziehen, ist in seinem Glauben aber genauso gefestigt wie ich in meinem. Letztlich muss eben immer noch jeder selbst entscheiden, woran er glaubt. Ich habe für mich schon sehr früh herausgefunden, dass die Kirche kein Ort ist, an dem ich mich Gott nahe fühle. Dort war es immer kalt, man musste auf harten Bänken sitzen und Texte singen, in denen es darum ging, dass man verdammt wird, wenn man nicht an Jesus glaubt. Das war mir immer ein bisschen zu krass. Du versuchst stattdessen, den Leuten über deine Musik Kraft zu geben. Fällt dir das beim Blick in die Zeitung manchmal schwer? Eigentlich teile ich mich den Menschen bloß mit. Doch wenn man darüber spricht, werden die tagtäglichen Probleme bereits viel erträglicher. Ich selbst habe ja auch keine Lösungen parat, doch Musik ist eben ein wunderbarer und unaufdringlicher Weg, sein Gedankengut mit Anderen zu teilen. Am schlimmsten ist es immer, wenn es einem selbst nicht gut geht, um einen herum jedoch die Spaßgesellschaft tobt. Dann fühlt man sich ausgegrenzt und allein. Ist diese Flucht vor den Alltagsproblemen hinein in die Spaßgesellschaft für dich nachvollziehbar? Natürlich. Trotzdem geht mir das als sensibler Mensch auf den Wecker, wenn die Menschen sich bereits weigern hinzusehen. Dabei kann man in seinem eigenen Umfeld bereits viel verändern und Dinge anders, und damit oft auch besser machen. Letztlich teilen wir alle dieselbe Freude und dasselbe Leid, und wenn wir uns dessen bewusst sind, wird es einfacher.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

"Diversity" von Gentleman ist auf Island/Universal erschienen

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