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1. Phoenix

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

In mir schlummert ein Nerd. Fast kaum einer kennt ihn, denn ich halte ihn gut versteckt. Der Nerd interessiert sich für Geschichte, aber nicht nur für so Otto-Normal-Fetische wie Stalingrad (obwohl das natürlich auch), sondern für unnützes Nischenwissen wie die Regierungszeit Oliver Cromwells, das Reich der Hethiter, die Schlacht bei Tannenberg und die chinesische T’ang-Dynastie. Wenn ich betrunken nach Hause komme und alleine bin, krabbelt der Nerd hervor, er ergreift von mir Besitz und schaltet den Fernseher an. Er drückt immer die Taste „4“, denn auf diesem Kanal sendet der Nerd-Sender „Phoenix“. Der Nerd will sich dann richtig schön in die Materie vertiefen und damit er das besser kann, will er dringend noch kiffen. Ich warne den Nerd jedes Mal und sage ihm: Tu’s nicht! Du musst nur kotzen, dir wird jedes Mal schlecht, schlaf einfach ein und mach den Fernseher aus, du checkst das eh nicht mehr.“ Aber der Nerd hört nicht auf mich und ich leide dann darunter. Die einzige willentliche Handlung, die ich noch ausführen kann, ist, auf die „Sleep“-Taste zu drücken. Die Sleep-Taste halte ich für eine der größten Erfindungen, seitdem es Fernseher gibt. Sie macht, dass der Fernseher nach 15, 30 oder 60 Minuten von alleine ausgeht. Nach nämlich fünf Minuten sind der Nerd und ich eingeschlafen.


2. Linsen

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Mit Kontaktlinsen in den Augen kann ich nicht schlafen, seit ich mal gelesen habe, dass das schädlich ist. Egal, wie groß der Rausch ist – die Linsen müssen raus. Es ist halb fünf in der Früh und ich rutsche auf den Knien über den Badezimmerboden. Gerade war die verfluchte Linse noch zwischen meinem rechten Daumen und dem rechten Zeigefinger und auf dem Weg in den Kontaktlinsenbehälter. Jetzt liegt sie irgendwo auf dem dunklen Boden. In meinem Kopf flüstert eine Stimme, dass weiche Kontaktlinsen schnell vertrocknen und ich mich langsam mal beeilen sollte. Aber das ist gar nicht so leicht, wenn die braun-grünlichen Badezimmerfließen nicht stillhalten wollen, die Ohren sausen und der Geschmack des letzten Touch Down noch im Mund ist. Ich atme tief durch. Da verschrumpeln gerade 80 Euro! Konzentration. Da hinten glitzert doch was? Ich robbe ein paar Zentimeter nach links. Gefunden! Triumphierend packe ich die Linse, ziehe mich am Heizkörper hoch und lege sie in den Behälter. Jetzt nur noch ins Bett und die Augen zu, damit endlich dieses Drehen aufhört. Beim Einschlafen nehme ich mir vor, morgen gleich nachzukucken, ob ich auch Flüssigkeit in den Behälter gefüllt habe. Ein Bekannter von mir hat seine Linsen mal in Nivea-Creme gelegt. Runde Dose mit weißer Creme neben dem blauen Deckel – leicht zu verwechseln mit dem Kontaktlinsenbehälter mit einem weißen und einem blauen Deckel. Dann doch lieber mit Linsen schlafen.


3. Emmentaler

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ich kann auf Partys nichts essen. Mich wundern die Menschen, die erstmal mit Vollmampf das Buffet abgrasen wie eine Kuh, die nach Monaten in der Dunkelheit im Frühjahr auf die Bergweide getrieben wird. Wenn ich ankomme, nehme ich mir ein Bier und bin wahnsinnig aufgeregt und schau mich um. Will wissen, wer da ist, wer nicht da ist, will zum Plaudern bereit sein. Essen geht da nicht. Ist ne Macke. Die führt dann dazu, dass ich beim Heimkommen doch zur Kuh werde. Dann fällt alle Vorsicht von mir. Ich räume allerhand Lebensmittel aus dem Kühlschrank auf den Küchentisch. Hartwurst, Leberwurst, Senf, Gurken, Emmentaler gerieben. (Ist eigentlich für „Über die Pizza“, ist in der bewussten Situation aber wurst.) Dann schenke ich mir ein Weißbier ein. Dann suche ich Brot und murmle unterdessen, schwankend: „WosndisscheisBwot?“ Meistens finde ich keines und nehme Cracker. Dann gibt es Leberwurst und Hartwurst und Senf und Gurke zwischen zwei Crackern. Sandwich also. Den geriebenen Käse habe ich mir schon mal nach dem ersten Abbeissen in den offenen Mund gestreut, weil ich ihn beim Belegen der Cracker vergessen hatte. Das ganze Arrangement ist in der beschriebenen Form nicht stilvoll essbar, aber wahrscheinlich ist das in dem Moment auch wurst. Wenn ich schließlich irgendwie satt bin, nehme ich einen Schluck vom Weizen und dann fällt mir ein, dass ich, wenn ich gegessen habe, gar nichts trinken kann. Das ist die andere Macke. Dann dreht es sich vor meinen Augen und ich gehe ins Bett. Immerhin: satt.


4. Gesundheit

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wenn ich alleine und mit den schweren Trinkstiefeln nach Hause komme, versuche ich meistens erstmal wahnsinnig leise zu sein, zumindest wenn ich ahne, dass meine Freundin schon schläft. Weil ich mich aber so stark darauf konzentriere keinen Krach zu machen, mache ich erst recht welchen. Ich ziehe also die Tür in Zeitlupe ins Schloß, lasse dann aber aus Versehen gleich meinen Schlüsselbund fallen. Das donnert wie eine Abrissbirne gegen das Haus. Ich achte penibel darauf, dass meine Jacke nicht raschelt, wenn ich sie ausziehe, reiße sogleich aber umgehend die ganze Garderobe mit mir um, weil ich vergessen habe, den anderen Ärmel auszuziehen. Erschrocken von diesem Gedöns flüchte ich mich in die Küche, begleitet von unbändigem Hunger und großem Tatendrang. Da Teller und Besteck zu viel Lärm machen würden, beginnt jetzt ein tolles aus dem Kühlschrank in den Mund-Fressen. Am liebsten beiße ich als erstes in ein riesiges Stück gelben Käses, weil das alles lindert. Dann betrachte ich fasziniert meine Zahnreihen im Gouda, arbeite mich zu Wurstresten und eingelegten Gurken vor. Auf alles kommt Brot und Süßsauer-Soße! Interessanterweise stellt sich nie eine Sättigung ein, deswegen geht es weiter an den Vorratsschrank, wo ich unter rituellen Gesängen eine vergessene Sardinen-Büchse finde. Die verspricht wildromantische Sättigung, es endet aber immer in einem schlimmen Pflanzenöl-Fisch-Blut-Gemenge. Das Blut ist von dem Dosendeckel an meinem Finger. Manchmal sind keine Fischdose und kein Wurstrest da, dann esse ich verdrossen mit beiden Händen trockene Cornflakes, die ich am nächsten Morgen noch in den Haaren habe. Ist alles in mir drin, fällt mir umgehend ein, wie schrecklich der letzte Kater war und ich mixe mir mein Geheimrezept: Drei Aspirin, ein Liter Wasser und zwei Tums-Kautabletten aus den USA gegen Sodbrennen und Magenkrämpfe. Die haben leider so einen ganz staubigen Fruchtgeschmack, deswegen muss ich danach noch mal in den Gouda beißen. Dann aber tänzle ich sehr vernünftig ins Bett, wobei ich noch mal eine Schneise der Verwüstung in unsere Wohnungseinrichtung schlage. Mein Freundin ist natürlich längst wach und wartet aufrecht sitzend im Bett auf meinen Auftritt. Sie hat gar keine Brille, aber wenn sie eine hätte, würde sie irritiert über den Rand gucken, während ich eine Kurzfassung des Abends von mir gebe, inkl. aller gehörten Lieblingslieder und Grimassen von Menschen die ich doof finde. Dabei versuche ich mich wie nebenbei zu entkleiden, bis ich entschieden habe, dass man ja wohl auch mal mit Hemd und halber Hose schlafen kann. Ab ins Bett! Statt Gute Nacht lalle ich noch „Du, ich hab Gouda gegessen wie eine ganz große Maus.“ Dann bin ich weg.


5. Schreiben

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ich merke immer dann, dass ich es am Vorabend eindeutig zu bunt getrieben habe, wenn ich am nächsten Morgen auf dem Küchentisch mehrere vollgekritzelte Zettel vorfinde. Es ist eigentlich immer dasselbe: Ich komme von einem lustigen Abend mit zu viel Bier nach Hause in die leere Wohnung und fühle mich so beschwingt, dass ich es als einen Verlust meiner ausnehmend guten Stimmung empfinden würde, wenn ich jetzt sofort ins Bett fallen würde. Also setze ich mich an den Küchentisch, serviere mir noch einen Schlaftrunk (der zum Glück fast immer alkoholfrei ist - so vernünftig bin ich dann zum Glück doch) und grinse debil vor mich hin. Wenn mir das nach ein paar Minuten zu fade wird, suche ich mir ein Stück Papier, um die ganzen tollen Gedanken, die da schräg durch mein Gehirn purzeln, für die Nachwelt aufzuzeichnen. Und in diesem eingeschränkten Zustand finde ich wirklich sehr viele Gedanken äußerst bemerkens- und aufschreibenswert. Am liebsten stelle ich dann Listen zusammen. Zum Beispiel die zehn besten Alternativen zu meinem jetzigen Beruf (die alle komischerweise immer etwas mit Bauernhöfen und Pflanzen wässern zu tun haben); oder eine wertende Liste der Menschen in meinem Leben, die ich echt nett finde; oder eine elendiglich lange Liste mit Dingen, die ich am nächsten Tag unbedingt machen sollte (darin fast immer enthalten: kurz ins Ausland fahren, weil: hey! Warum nicht?!). Und wenn ich ausnahmsweise mal keine Listen schreibe, dann fabriziere ich sehr lange und immer wirrer werdende Texte, die vor Sentimentalität nur so triefen. Wobei ich in dem Moment des Schreibens immer felsenfest davon überzeugt bin, dass ich gerade einen sehr interessanten und nie zuvor gedachten Gedanken aufschreibe. Uff! Zum Glück habe ich diese Texte bisher immer nur mit echten Stiften auf echtes Papier geschrieben und noch nie in den Computer oder gar online. So kann ich dann am nächsten Mittag gleich nach dem Aufstehen die Zeugnisse der vergangenen Nacht noch einmal kurz durchlesen, mich sehr schämen, rot werden und dann das Papier in der Spüle verbrennen. Weil die Papiertonne viel zu riskant wäre für so einen toxischen Müll.

Text: jetzt-Redaktion - Illustration: Katharina Bitzl

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