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Lena Meyer-Landrut - ein bisschen Frieden

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Nur Irre oder kleine Mädchen im Grundschulalter schreiben Lobeshymen auf Castingshow-Teilnehmer. Nur Heuchler schauen sich Gesangswettbewerbe deshalb an, weil dort talentierte Sänger auftreten. Zumindest war das bisher so. Seit drei Wochen aber sucht Stefan Raab den deutschen Teilnehmer am Eurovision Songcontest per Casting und seit der ersten Folge ist „Unser Star für Oslo“ eigentlich schon gefunden: die 18-jährige Lena Meyer-Landrut aus Hannover. Auf ihrer Facebook-Seite, die sie weder selbst angelegt hat, noch liest, gehen Heiratsanträge und Lobeshymnen im Minutentakt ein. Noch vier Auswahlrunden muss sie bestehen. Dann wird es zum ersten Mal in der Geschichte der Eurovision Songcontest genannten Trash-Veranstaltung möglich sein, dass sich die Bewohner dieses Landes mit ihrer Pop-Vertreterin identifizieren können. Endlich wird einmal kein dressierter Kanarienvogel mit den anderen Nationen um die Wette krähen. Endlich ist der Eurovision Songcontest nicht deshalb spannend, weil man voyeuristisch und voller Schadenfreude auf das Scheitern der neuen deutschen Pop-Peinlichkeit wartet.

Lena Meyer-Landrut: Das perfekt verpeilte Indie-Mädchen mit den Mandel-Augen und dem verschmitzten Nora-Tschirner-Blick. Wer vor drei Wochen in die erste der acht „Unser Star für Oslo“-Folgen auch nur zufällig reingeschaltet hat, wird bestätigen können, dass da ein verdammt talentiertes Mädchen beim Publikum etwas ausgelöst hat, das es aus handelsüblichen Castingshows nicht kannte: ehrliche Begeisterung. Wie sie da völlig unbekümmert über die Bühne tänzelte. Wie sie da ein hinreißend sperriges Stück von der meisterhaft mainstreamfernen Sängerin Adele auspackte. Wie sie da mit überschnappender Stimme, knallrotem Mund und forderndem Augenzwinkern einfach mal loslegte. Und wie sie nach ihrem Auftritt übermütig ins Mikrophon rief: „Ich freu mich so hart.“ Man musste es am nächsten Tag der Freundin erzählen, in der Mensa diskutieren oder auf sein Blog schreiben. Mitreißend, herrlich, frech, genial, verrückt, jung, einmalig, grandios, individuell – das ist nur eine kleine Auswahl an Adjektiven, mit denen das gesamtdeutsche Feuilleton ihrem ersten Auftritt gerecht zu werden versuchte. Stefan Raab verfolgte Lenas Nummer mit offenem Mund. „Völlig geflasht“ sei er gewesen, sagte er später in der Jury-Beurteilung. Man muss wissen, dass Lena kein Instrument spielt, keinen Gesangsunterricht nimmt, in keiner Band singt und bisher nur ein paar Auftritte bei Schulaufführungen zu verbuchen hatte. Sie wollte einfach mal sehen, wie sie so ankommt. Als der Bandleader von Raabs Show-Kapelle versuchte, ihr den komplizierten Adele Song „my same“ auszureden, soll sie gesagt haben: „Dann scheide ich eben aus.“ Auch in der zweiten Sendung wählte sie dann ein nahezu unbekanntes Stück aus, das sich „Diamond Dave“ nannte und von einer Band namens „The Bird and the Bees“ stammt. „Die kennt man doch von den Grillos“, sagte sie zu Stefan Raab als der sie auf ihren ungewöhnlichen Musikgeschmack ansprach. Raab nickte und dachte an Grillanzünder. Stefan Raab begreift seine Sendung nicht als Klamauk sondern als ernsthafte Mission. Die Suche nach dem Star von Oslo bezeichnet er als „nationale Aufgabe“ und die Ironie dieser Aussage besteht gerade darin, dass sie keine besitzt. Raab macht ernst. Er beweist guten Geschmack. Er hat kein wild blinkendes Emotionskarrussel aus Triumph, Enttäuschung und Freudentränen in Gang gesetzt, das den Zuschauer mitfiebern und bis zum Ende der Sendung dranbleihen lässt. Es hat es tatsächlich geschafft, dass man gestern Abend guten Gewissens eine Casting-Show angucken konnte, einfach weil man den dritten Auftritt von Lena Meyer-Landrut sehen wollte. Lena führt in allen Umfragen, die den Ausgang von Raabs Eurovisions-Casting vorauszusehen versuchen. Erstaunlich ist das auch deshalb, weil sie bislang nichts über ihr Privatleben verrät und damit gegen die ewige Casting-Show-Regel verstößt, dass nur derjenige Gesangs-Superstar wird, dessen Weg von Schicksalsschlägen krumm und schief gebogen wurde. Lena äußert sich gegenüber Boulevardzeitungen weder zu dem Lilientatoo auf ihrem Oberarm noch zu der Frage, ob sie einen Freund hat. Außerdem ist sie gut in der Schule. Gerade bereitet sie sich auf ihr Abitur vor und schreibt Prüfungen, anstatt ihre Auftritte zu proben. Ein bisschen muss Lena aufpassen, kein Streber-Image zu bekommen. Das Publikum liebt immer die Kandidaten am meisten, die am wenigsten mit seiner Zuneigung rechnen. Die Unperfekten, die Andersartigen, die Kübelböcks, Potts, Boyles oder am Ende Lenas schärfsten Konkurrenten – den Jungen mit dem völlig ungekünstelten Nachnamen „Durstewitz“. Das ist ok so. Es soll ja spannend bleiben für unsere „Star für Deutschland“ Lena. Das perfekt verpeilte Indie-Mädchen mit den Mandel-Augen und dem verschmitzten Nora-Tschirner-Blick. Die Falco als größte Musiklegende aller Zeiten verehrt und am liebsten Filme des französischen Amélie-Regisseures guckt. Fast ist man erleichtert, dass sich auf der Liste ihrer Top10-Songs der Schmacht-Bolzen Jack Johnson findet und ihre erste Platte eine von Oli P. war. In ihrer Kindheit muss also alles mit rechten Dingen zugegangen sein. Vielleicht ist Lena sogar doch ein ganz normaler Mensch. Kein Superstar, kein Ausnahmetalent, kein Aushängeschild für Raabs Anti-Casting. Einfach nur ein Mädchen, das wahnsinnig gut singen kann und dabei auch noch Spaß hat.

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