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„95 Prozent der Männer würden gerne mit mir tauschen“

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Jochen, wie bist du Internet-Fußballkommentator geworden? Es gehört eine Menge Glück dazu, eine Menge Fußballverrücktheit, und man muss seine Ziele verfolgen. Ich habe diesen Traum schon immer gehabt. Ich habe an der Technischen Universität München Sport, Medien und Kommunikation studiert, Richtung Sportjournalismus. Bei uns an der Uni hat irgendwann der FC Bayern München nachgefragt, welche Studenten im Stadion für blinde Fans des FC Bayern Spiele kommentieren möchten. Die Fans sitzen dann im Stadion, haben ein Empfangsgerät und Kopfhörer, worüber sie die Kommentare hören können. Ich habe mich für den Job beworben, wurde von einem Dozenten weiterempfohlen und später zusammen mit einem Kommilitonen auch genommen. Das war ein idealer Einstieg, weil wir für die blinden Fans allein mit unserer Stimme und Sprache die Bilder malen mussten. Hattest du Vorbilder? Natürlich kenne ich große Namen von Sportkommentatoren. Günther Koch zum Beispiel, der jetzt auch bei 90elf ist, habe ich sehr viel zu verdanken. Ihm habe ich ein Probetape mit einem Kommentar für die blinden Fans geschickt, und daraufhin hat er mich immer wieder gefördert und gefordert. Was Vorbilder angeht glaube ich, dass gerade in diesem Job man Gefahr läuft, die Formulierungen und Floskeln eines Idols zu übernehmen. Man sollte seinen eigenen Weg gehen und auch seine eigenen Ecken und Kanten finden.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Du hast bereits für Arena, das DSF und Radio Gong gearbeitet. Was reizt dich jetzt am Fußballradio 90elf? 90elf bietet die Möglichkeit, 90 Minuten am Stück live zu kommentieren. Das ist eine unheimlich große Erfahrung – ob die Spiele nun gut oder schlecht sind. Es macht in jedem Fall Spaß, und man reift mit jedem einzelnen Spiel. Man entdeckt immer wieder neue Seiten am Fußball und an sich selbst. 90elf ist das, was es jahrelang nicht gab, nämlich 90 Minuten kostenloser Kommentar zum Lieblingsspiel des Hörers mit Vor- und Nachbericht. Dadurch kann der Fan seinem Verein sehr nahe sein. Du kommentierst in der 90elf-Zentrale in Leipzig. Wie muss man sich deinen Arbeitsplatz dort vorstellen? Wir haben eine ganz normale Kommentatorenbox mit Mikrophon, Kopfhörern und einem Aufzeichnungsgerät, das auf dem Server unser Spiel mitschneidet. So haben wir im Nachhinein die Möglichkeit, uns alles noch mal anzuhören und unseren Kommentar zu analysieren. Wie bereitest du dich auf ein Spiel vor? Ich mache mir immer eine Tabelle: links die Heimmannschaft, rechts die Auswärtsmannschaft. Diese Tabelle nagele ich voll mit Informationen: Wie sah’s in der letzten Saison für die Teams aus? Was sind die jetzigen Saisonziele? Welche Spieler haben zuletzt getroffen? Wem droht eine Gelb-Sperre? Wer ist verletzt und warum? Wer war verletzt und ist es jetzt nicht mehr? Dazu fertige ich von jedem Spieler eine Karteikarte an mit Vor- und Nachnamen, Nationalität, Größe, Gewicht, Rückennummer, Länderspiele, Anzahl der Spiele und Tore. Auch die früheren Vereine des Spielers sind wichtig zu wissen. Man sucht also nach Infos und Geschichten, die man unter anderem aus der Tagespresse der jeweiligen Vereinsstädte ziehen kann, weil die lokalen Journalisten oft sehr nah dran sind. Außerdem muss man sich noch einen Einstieg für die Partie überlegen. Der einzige Haken ist, dass man sich eigentlich nie genug vorbereiten kann. Viele Kommentatoren sagen, es sei gut, dass man sie während der Arbeit nur hören und nicht sehen könnte. Würde es peinlich werden, wenn es in deiner Box auch eine Kamera gäbe? Ich glaube nicht. Das ist ja auch eine Frage des Stils. Jeder Kommentator sitzt anders auf seinem Kommentatorenstuhl. Manche wirken sehr entspannt, lehnen sich weit zurück und arbeiten unheimlich viel mit der Stimme: hoch, tief, schnell, langsam. Andere sind sehr aufgeladen, fuchteln mit Händen und Füßen herum. Und wie ist es bei dir? Bei mir kommt es auf das Spiel an. Ich bin generell jemand, der versucht, viel mit Gestik und Mimik zu transportieren. Das ist übers Radio natürlich nicht möglich. Wenn das Spiel langsam und ruhig ist, lehne ich mich eher zurück und kann meine Körperhaltung auch durch meine Sprache vermitteln. Wenn aber ein Tor fällt, bin ich schon angespannter, werde lauter und schneller und springe auch schon mal auf. Es könnte aber nicht peinlich werden, wenn andere das sehen würden. Mir macht es auch nichts aus, wenn ich im Stadion kommentiere und hinter mir Leute stehen, die mir dabei zuschauen. Verlierst du dich manchmal beim Kommentieren in einem Spiel, als säßest du mit den Jungs auf dem Sofa, wo beim Fußballgucken ja auch viel und wild kommentiert wird? Manchmal entwickelt ein Spiel vom Kommentar her schon eine gewisse Eigendynamik, das ist auch ganz angenehm. Es gibt Spiele, die einfach ereignislos sind, bei denen sich außer zwei, drei Torschüssen eine ganze Halbzeit lang alles nur im Mittelfeld abspielt. In solche Spiele komme ich persönlich relativ schwer rein und versuche, mit Hintergrundinformationen die Zeit zu überbrücken. Wenn Spiele aber temporeich sind und viel bieten, kann es sein, dass man schon nach drei Minuten so sehr im Spiel drin ist und eine ganze Halbzeit lang durchspricht, ohne sich selbst auch nur ein einziges Mal zu wiederholen. Wenn man in solchen Spielen nicht die Zuhörer alle fünf bis zehn Minuten auf die Spielzeit hinweisen müsste, würde man selbst gar nicht merken, wie schnell diese vergeht. Weil einfach alles unheimlich schnell läuft. Es schadet nicht, wenn man sich in einem Spiel verliert. Empfindest du deinen Job denn auch manchmal als stressig? Nein, nie! Die Vorbereitung ist zeitintensiv und aufwändig, aber bevor ich unvorbereitet zu einem Spiel komme, arbeite ich lieber drei Stunden länger als ich eigentlich sollte. Stress ist das für mich aber gar nicht, weil man in dem Job einfach viel zu viel Spaß hat. Ich sage immer: 95 Prozent der Männer würden gerne mit mir tauschen. Es ist mein Traumjob. Bei 90elf kommentieren nur Männer. Würdest du dir grundsätzlich wünschen, dass mehr Frauen diesen Job ausübten? Ich glaube nicht, dass es geschlechterabhängig ist, ob jemand fußballerische Kompetenzen und die Fähigkeit entwickeln kann, zu kommentieren. Man muss fußballverrückt sein, und ich kann mir durchaus vorstellen, dass es solche Frauen gibt, die dann auch Spiele kommentieren könnten. Im öffentlich rechtlichen Rundfunk und auch im Fernsehen kommentieren ja auch Frauen. Ich glaube nur, dass es in Deutschland ein schweres Thema ist, weil eine Frau von Grund auf in den Augen der Fußballfans ein schwierigeres Standing hat als ein Mann. Frauen haben daher mehr damit zu kämpfen, authentisch zu wirken.

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