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"Martin will kein Held sein"

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Als der deutsche Student Martin Jahnke, 27, im Februar in Cambridge mit einem Schuh nach Chinas Premierminister Wen Jiabao warf, fühlten sich viele an den Schuhwurf auf George W. Bush erinnert. Die 63-jährige Chinesin Rongfen Wang sah vor allem eine Parallele zu ihrer eigenen Geschichte. Als junge Frau schrieb die heute in Deutschland lebende Schriftstellerin einen kritischen Brief an Chinas Führer Mao Tse Tung und musste daraufhin für fast 13 Jahre ins Gefängnis, wo sie unter schwerer Folter litt. Für Rongfen Wang war Martin Jahnkes Schuhwurf ein Akt des Protestes gegen die Menschenrechtsverletzungen in China. Als sie davon hörte, dass auch Jahnke eine Haftstrafe drohte, schrieb sie einen offenen Brief an die Europäische Union, in dem sie um Solidarität mit dem jungen Deutschen warb und startete eine Unterschriftenaktion für seine Freilassung. Vor einer Woche wurde Martin Jahnke schließlich freigesprochen. Rongfen Wang hat ihn während der Prozesstage begleitet. jetzt.de: Frau Wang, manche Kritiker sagen, der Schuhwurf sei ein Fehler gewesen, weil sich Martin Jahnke ausgerechnet mit Hilfe von Gewalt für mehr Menschenrechte eingesetzt habe. Rongfen Wang: Einen Schuh zu werfen, war sicher nicht die beste Idee, da stimme ich zu. Hier im Westen, wo Meinungsfreiheit herrscht, sollte man seine Meinung verbal vertreten und nicht mit fliegenden Schuhen sprechen. Aber für mich war der Schuhwurf kein Symbol der Gewalt, sondern ein Akt des Protests. Ein Turnschuh ist keine Waffe. Martin Jahnke ist Pazifist und hat Solidarität mit allen Chinesen gezeigt, deren Menschenrechte verletzt wurden. jetzt.de: Was hat er letztlich mit dem Schuhwurf erreicht? Rongfen Wang: Er hat die Gefühle des chinesischen Volkes erreicht. Nicht umsonst hielt vor dem Gerichtssaal eine Gruppe junger Chinesen Plakate hoch, auf denen „Thank you, Martin!“ stand. Für viele Chinesen ist er ein Held.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

4. Juni 2009: Vor der chinesischen Botschaft in London zeigt Martin Jahnke (4.v.r.) Solidarität mit chinesischen Demonstranten, die an den 20. Jahrestag des Tiananmen-Massakers erinnern. jetzt.de: Als junge Frau haben auch Sie die Gewalt des kommunistischen Regimes in China offen kritisiert und saßen dafür fast 13 Jahre im Gefängnis. Was verbindet Sie persönlich mit Martin Jahnke? Rongfen Wang: Der Kampf für die Menschenrechte, für Gerechtigkeit. Martin ist mutig und hat Zivilcourage gezeigt. Als ich erfahren habe, dass ihm eine Haftstrafe droht, habe ich sofort beschlossen, mich für ihn einzusetzen. jetzt.de: Sie sind eigens nach Cambridge gereist, um ihn beim Prozess moralisch zu unterstützen. Dabei kannten Sie ihn bis dahin gar nicht. Rongfen Wang: Das stimmt. Ich habe ihn im Gerichtssaal das erste Mal gesehen. Als ich ihn auf dem Korridor angesprochen habe, habe ich sofort erkannt, dass er ein sehr netter und schüchterner junger Mann ist. Seine Schüchternheit ist übrigens auch ein Grund, weshalb er den Schuh geworfen hat. jetzt.de: Wie muss man das verstehen? Rongfen Wang: Als Martin am Ende der Rede Wen Jiabaos aufstand und die anderen Studenten zum Protest aufrief, trat er einen wahren Schimpfchor los. Die meisten geladenen Gäste waren junge, linientreue Chinesen mit staatlichem Stipendium, die natürlich sehr empört waren. Im Hörsaal wurde es plötzlich so laut, dass Martin nichts mehr hören und sagen konnte. Die Situation hat ihn eingeschüchtert, er fühlte sich hilflos und hat dann seinen Schuh geworfen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

2. Juni 2009: Chinesische Sympathisanten von Martin vor dem Gericht in Cambridge. jetzt.de: Martin Jahnke hatte den Schuhwurf also nicht geplant? Rongfen Wang: Nein, eigentlich wollte er nur seine Solidarität mit den Chinesen zeigen und gemeinsam mit ihnen friedlich demonstrieren. Er ging fest davon aus, dass es im Hörsaal zum offenen Protest kommen würde. Aber es hat keiner protestiert, da die kritischen chinesischen Studenten alle draußen bleiben mussten. Auch die Rede des Premierministers war keine akademische Vorlesung, sondern nur politische Propaganda. Deshalb muss ich Martin Jahnke in seinen Worten Recht geben, die er vor dem Schuhwurf in den Hörsaal gerufen hat: Die Universität Cambridge hat sich vor dem chinesischen Diktator prostituiert. jetzt.de: Erwarten Martin Jahnke nun Konsequenzen seitens der Uni? Rongfen Wang: Die Uni hatte zuerst geplant, ihn raus zu werfen. Schließlich gilt in Cambridge Disziplin als höchstes Gesetz. Der Richter und auch Martins Professoren, die vor Gericht ausgesagt haben, haben sich aber für ihn stark gemacht. Er muss also kein Disziplinarverfahren befürchten und kann sich jetzt voll auf seine Dissertation konzentrieren. jetzt.de: Warum hat Martin Jahnke kaum Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen erhalten? Rongfen Wang: Ich weiß es nicht, vielleicht aus diplomatischen Gründen. Umso mehr schätze ich die Selbständigkeit der britischen Justiz. Großbritanniens Premierminister Gordon Brown hat sich beim chinesischen Premier für den Vorfall entschuldigt, aber der Richter hat durch den Freispruch das Gesicht des britischen Rechtssystems gewahrt. jetzt.de: Wie haben Sie den Prozess erlebt? Rongfen Wang: Komisch fand ich, dass der Turnschuh die ganze Zeit auf dem Richterpult stand. Als ich nachgeforscht habe, habe ich festgestellt, dass es nicht der richtige Schuh war. Martin Jahnke hat nämlich nicht mit dem rechten, sondern mit dem linken Schuh geworfen. Vermutlich hat die chinesische Botschaft den echten Schuh bewusst verschwinden lassen, weil man verhindern wollte, dass er als Kultobjekt versteigert wird. So war das ja beim Schuh des irakischen Journalisten, der auf George W. Bush geworfen hatte. Martin hat übrigens gesagt, dass ihn der Schuhwurf auf Bush sehr inspiriert habe. jetzt.de: Zu den Vorfällen möchte sich Martin Jahnke nicht öffentlich äußern. Kann auch das mit seiner Schüchternheit erklärt werden? Rongfen Wang: Ich glaube schon, denn als wir nach der Verhandlung nach draußen gingen, warteten jede Menge Journalisten auf ihn. Martin wollte zwar etwas sagen, aber er konnte nicht. Also ließ er über eine Assistentin des Anwalts ausrichten, er wünsche sich, dass sich die Aufmerksamkeit der Medien von nun an nicht mehr auf ihn, sondern wieder auf die wahren Menschenrechtsprobleme in China richte. Sie sehen: Martin will kein Held sein. jetzt.de: Sie haben ihn nach dem Freispruch getroffen. War er erleichtert? Rongfen Wang: Zwei Tage nach dem Freispruch kam er zum 20. Jahrestag des Tiananmen-Massakers nach London, um gemeinsam mit mir und meinen chinesischen Freunden vor der Botschaft zu demonstrieren. Er wirkte gelöst und nicht mehr so schüchtern, kam in kurzen Hosen und T-Shirt. Wir haben gemeinsam gegessen und geplaudert. Martin Jahnke ist ein sehr intelligenter Mensch und die Medien haben gar nicht mitbekommen, dass er da war. jetzt.de: Könnte es auch sein, dass er den Medien bewusst aus dem Weg geht, weil er den Schuhwurf bereut? Rongfen Wang: Nein, auf keinen Fall. Auch als der Richter ihn das gefragt hat, hat er ganz deutlich Nein gesagt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Rongfen Wang im Jahr 1989: Das Bild wurde vor dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz aufgenommen. Im Hintergrund ist die frisch eingerichtete Demokratiestatue zu sehen, die Tage später von Panzern niedergewalzt wurde. jetzt.de: Wurde ihm das bei der Urteilsfindung nicht nachteilig ausgelegt? Rongfen Wang: Ganz im Gegenteil. Es wurde ihm positiv angerechnet, dass er eine feste Meinung hat. Der deutsche Student hat sozusagen gerade gestanden wie eine deutsche Eiche (lacht). jetzt.de: Es klingt, als seien Sie und Martin Jahnke Freunde geworden? Rongfen Wang: Freunde? Nein, soweit ist es noch nicht. Er ist sehr wortkarg, wissen Sie. Aber er hat mir gesagt, dass er uns bei zukünftigen Protestaktionen begleiten möchte. Er hat eben die Menschenrechte im Blut, genau wie ich. jetzt.de: Kennt er Ihre Vergangenheit? Den kritischen Brief an Mao, die knapp 13 Jahre Haft und Folter, die Verbannung aus Ihrem Heimatland? Rongfen Wang: Darüber haben wir nicht gesprochen, das halte ich auch nicht für nötig. Ein junger Mensch sollte sich seine eigene Meinung bilden. jetzt.de: Sie haben Einreiseverbot in Ihr Heimatland. Was werden Sie tun, wenn Sie eines Tages wieder nach China reisen dürfen? Rongfen Wang: Dann werde ich wieder meine Meinung sagen. jetzt.de: Auch auf die Gefahr hin, erneut ins Gefängnis zu wandern? Rongfen Wang: Warum denn nicht? Ich halte es für sehr wichtig, seine Meinung zu sagen. Aber ich werde keinen Schuh werfen, das ist sicher.

Text: andreas-glas - Fotos: privat

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