Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Die Mauer kommt zurück

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Am Bordstein warten die Touribusse, Stoßstange an Stoßstange. Eine italienische Schülergruppe drängelt sich an die Mauer, rund 300 Finger betatschen das Graffiti. Zwei Jungen kichern, wühlen in den Taschen, als der Reiseleiter rüber zur O2-Arena schaut, versuchen sie, mit einem Taschenmesser etwas Beton heraus zu brechen. Ein Stückchen Geschichte als Souvenir für Zuhause. „Manche kommen mit dem Hammer und schlagen ganze Brocken heraus“, sagt Kani Alavi, 53, Gründer des Vereins East Side Gallery. „Das ist hier offen zugänglich. Und das soll es auch sein. Beschädigungen bleiben da nicht aus.“ Die „East Side Gallery“, das ist das längste erhaltene Stück der Berliner Mauer. Und es ist ein Zeugnis der Euphorie, die in den Monaten nach der Wende herrschte. Jener goldenen Zeit, als das alte Berlin ganz neu war, als man halb besoffen von einer Party in die nächste stolperte, in asbestverseuchten Lagerhäusern mit wildfremden Menschen rumknutschte, während der Magen von Technoklängen wummerte. Als die Hauptstadt so cool war, wie sie nie, nie, nie wieder sein wird, wie die Dabeigewesenen den Zuspätgekommenen sehr, sehr, sehr oft erzählen. Damals beschloss Kani Alavi mit einer Reihe von Freunden, in einem Wettbewerb Künstler aus aller Welt zu suchen, die sich an der bis dahin unzugänglichen Ostseite der Mauer verewigen. Insgesamt 118 Maler kamen 1990 zusammen und ließen auf 1,3 Kilometern die größte Open-Air Galerie aller Zeiten entstehen. Bis heute ist der Mauerrest zwischen dem Ostbahnhof und dem S-Bahnhof Warschauerstraße der zweitbeliebteste Anziehungspunkt für Berlinbesucher, nach dem Brandenburger Tor. Nur viel war zuletzt nicht mehr davon zu sehen. Nicht nur die Touristen beschädigten die East Side Gallery. Vor allem die Witterung setzte den Werken zu. Der Beton bröselte ab, das Eisenskelett im Inneren der Mauer war verrostet. Was Wind und Wetter übrig ließen, verschwand unter einer Schicht aus Schmierereien und zum Teil blanker Zerstörungswut. Nach jahrelangem Kampf um die Gelder wurde die East Side Gallery schließlich für 2,5 Millionen Euro aus Mitteln vom Land Berlin, von Bund und EU sowie aus der Lottostiftung saniert. Mit nur einem Haken: Die Bilder mussten dafür mit Sandstrahl abgetragen werden. Ganz blank liegt die Mauer nun wieder da, wie damals, als die Grenzpatrouillieren an der Mühlenstraße noch mit Gewehren unterm Arm auf- und marschierten und sich niemand rantraute. Nur etwas sauberer.

Bildergalerie kann leider nicht angezeigt werden.

Aber bis im November 20 Jahre Mauerfall gefeiert werden, soll die East Side Gallery wieder so aussehen wie 1990. Denn die Künstler von damals kommen zurück. 86 von ihnen konnte Kani Alavi aufspüren. Fünf waren gestorben, ein paar ganz wenige, wie der Amerikaner Jim Avingon hatten keine Lust, aber der Großteil findet das Projekt gut. Und wichtig. „Wer weiß was von der Mauer heute noch übrig wäre ohne die Kunst“, sagt der Künstler Thierry Noir. „Wenn man sie so kaputt gelassen hätte, würde sich irgendwann niemand mehr darum kümmern. Dann wird sie früher oder später verschwinden.“ Viele haben Schablonen dabei, an jedem der frisch verputzen Mauerstücke hängt ein Foto des Originals. Manche brauchen nur ein paar Tage, andere einen Monat. Die 4000 Euro, die sie als Aufwandpauschale bekommen, ist da nicht wirklich viel. Andererseits: Damals gab es gar nichts. Jeden Tag kommen weitere Künstler angereist, um ihre Werke selbst zu kopieren. Für die meisten ist das Wiedersehen wie ein kleines Familientreffen. Nicht so für Lutz Pottien. Wäre es nach den Veranstaltern gegangen, hätte der damals 25-Jährige 1990 gar nicht malen dürfen. „Aber ich fand es nicht richtig, dass Künstler aus aller Welt mitmachen – und kein einziger aus Ostberlin.“ Vor allem störte ihn, dass eine selbsternannte Jury die Motive auswählte. „Auf der Westseite war die Mauer eine Fläche für Liebeserklärungen, Kritzeleien, Graffitis, einfach für jedermann. Und auf der Ostseite wollten sie einen Wettbewerb daraus machen?“ Also schwänzte er eines Tages die Uni, kaufte ein paar Eimer Farbe und malte einfach los – bis plötzlich ein paar Männer aufgeregt über die Straße gerannt kamen. „Ich war mir damals sicher, dass sie es gleich überpinseln“, sagt Pottien. Aber das Bild überlebte. „Ich hatte damals keine große Botschaft im Kopf, Hauptsache unpolitisch. Friedenstauben, Victory-Zeichen hinter Gitterstäbe – das hatten wir im Sozialismus wirklich genug. Ich dachte mir, da wird die Mauer gleich wieder zur Projektionsfläche für einseitige politische Botschaften. Gerade auf der Ostseite Anfang der 90er hätte der Mauer eine Entpolitisierung gut gestanden.“ Heute würde Pottien, der mittlerweile als Architekt in Pankow arbeitet, lieber etwas anderes malen, statt der rauchenden Araber nach Graphiken aus den 20ern. „Ich dachte mir einfach, ich fahre jeden Tag an der Mauer vorbei, da will ich wenigstens ein Bild sehen, das mir gefällt. Heutzutage steht Rauchen ja nicht mehr für Genuss, sondern eher für Verbot.“ Aber Korrekturen sind bei der Sanierung nicht vorgesehen. Der Denkmalschutz muss jedes Bild abnehmen. Minimale Abweichungen werden geduldet. Die Freiburger Künstlerin Rosemarie Schinzler hat zum Beispiel unter ihre stilisierten Friedenstauben, die an einem roten Faden eine Miniversion des Brandenburger Tors durch die Lüfte tragen, ihre Webpage dazugeschrieben. Aber gravierende Veränderungen sind nicht erlaubt. Derzeit wird noch versteckt von den Blicken der Touristen hinter einer weißen Plane gemalt. Am 24. Mai beginnt dann die „längste Vernissage der Kunstgeschichte“: 100 Tage können die Besucher dann zwischen Lesungen, Musik- und Filmveranstaltungen die Künstler bei der Arbeit beobachten.

Text: sarah-stricker - Fotos: www.eastsidegallery-berlin.com

  • teilen
  • schließen