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Als er 4 000 Kilometer gelaufen war, begann er zu tanzen. Er sprang auf die Fahrbahn der Straße durchs Nichts, warf die Arme wie eine schlenkernde Marionette in die Luft, drehte sich um sich selbst, hüpfte auf und ab und die Lastwagen scherten aus, überholten den Tanzenden und zogen davon. Als er 4 000 Kilometer gelaufen war, hatte Christoph Rehage einen langen Bart und struppiges Haar und notierte in seinem Blog: „Es ist definitiv besser, mit Menschen zu tanzen, als mit Autos.“ Wenig später, als er im Oktober 2008 im westchinesischen Ürümqi ankam, hörte er auf zu laufen. Nach 4 646 Kilometern. Da war er seit einem Jahr unterwegs, war von Peking aus einmal quer durch China gelaufen, gegangen, gewandert, „so rumgelatscht“, wie er sagt. Hatte die Wüste Gobi durchquert und Berge erklommen, hatte alle 1 000 Kilometer die bewältigte Strecke mit einem Tanz gefeiert und sich dabei gefilmt. Ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr sitzt Christoph Rehage in einem Münchner China-Imbiss und spricht von seinem Weg, als würde er ihn noch laufen. Vom struppigen Wanderbart sind nur ein paar Dreitage-Stoppeln geblieben, das Haar ist wieder kurz geschnitten. Nach drei Jahren in China hat der 27-Jährige nun sein Studium in München wieder aufgenommen und doch rutscht seine Reise-Erzählung immer wieder ins Präsens. „Wenn zwischen zwei Städten 300 Kilometer Strecke liegen, dann mache ich das so, dass ich mich von Dorf zu Dorf hangle, um so wenig wie möglich draußen zu pennen“, sagt er zum Beispiel. Ganz so als wäre er noch immer unterwegs. Als müsse er sich für heute nach einen Schlafplatz suchen. „Ich schlafe dann entweder bei Privatleuten in einer Ecke oder es gibt eine kleine Herberge und wenn ich in einer großen Stadt bin, dann gehe ich auch in ein Hotel, gebe alle meine Sachen in eine Wäscherei und trage drei Tage nur einen Bademantel und esse Schokolade.“ Die Wüste sei hart genug, da müsse er nicht noch zusätzlich unterwegs den harten Mann markieren.

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Aufhören war nicht leicht Eigentlich hatte Christoph bis nach Deutschland laufen wollen, über Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Iran, Armenien, die Türkei und quer durch Europa bis ins heimische Bad Nenndorf. Doch in Ürümqi war Schluss: „Einfach, weil ich mich nach über 4 500 Kilometern und einem Jahr Laufen entschlossen habe, nicht mehr zu laufen.“ Punkt. „Ich bin nicht müde oder satt. Aber mir ist klar geworden, dass ich nicht noch zwei weitere Jahre durch die Wüste laufen und noch mehr Erfahrungen machen wollte, die ich nur Leuten mitteilen, aber nicht mit ihnen teilen kann.“ Er habe gemerkt, dass er eine Familie haben möchte und dass es dem entgegenwirken würde weiterzulaufen. Aufhören, anhalten, nicht mehr weiter laufen – das war keine leichte Entscheidung für ihn. Es war eine bewusste Entscheidung dafür, seinen großen Traum zu beenden. „The longest Way“, den längsten Weg, hat er seine Reise im Vorfeld genannt und täglich Fotos und Texte aus China in sein Weblog gestellt. „Das sollte der Höhepunkt meines Lebens sein“, sagt er und den Weg dorthin plante er ein Jahr lang, während er in Peking studierte. Er ist kein Sportler, kein Wanderer oder Bergsteiger, er zeltet nicht gerne. Eigentlich hatte Christoph noch nicht mal ein besonderes Interesse für China und schon gar kein konkretes Ziel. Vielleicht war das der Grund, dass sein Weg länger war, als andere. Vielleicht braucht es manchmal einen Fußmarsch, um Entscheidungen treffen zu können, vielleicht ist tatsächlich der Weg das Ziel. So wie damals, als er das erste Mal lief. Nach dem Abitur war Christoph aus Bad Nenndorf weggegangen, „weil ich nicht so richtig wusste, was ich machen sollte.“ Er wollte Flugbegleiter werden, weil man da immer unterwegs ist, „aber meine Service-Einstellung hat wohl nicht gestimmt.“ Dann zog er nach Paris und jobbte ein Jahr lang bei McDonalds, dann im Louvre, später in einer Disko. „Als dann irgendwann der Ruf laut wurde, ich solle nach Hause kommen und was studieren, da wollte ich nicht so richtig und dann bin ich zu Fuß zurück gelaufen.“ Ganz spontan traf er die Entscheidung, nur mit einem Rucksack und einem Schlafsack lief er in 23 Tagen durch Europa bis nach Norddeutschland. Zum Schlafen habe er sich einfach irgendwo eingerollt, gelebt hat er von Dosenravioli. „Aufgemacht und dann so“, sagt er und leert sich mit der Hand eine imaginäre Büchse. Bis zu seinem Elternhaus sei er gerade so gekommen – viel weiter hätte er es nicht geschafft. „Weil man sich einfach auszehrt, wenn man nicht die Zinsen ausgibt, sondern das Kapital.“ Als er dann in München anfing, Geschichte und Politik zu studieren und „zufällig“ als Nebenfach Chinesisch wählte, da merkte er, dass der Weg von Paris nach Bad Nenndorf „irgendwie doch eine wichtige Erfahrung war.“ Sein Kompass war nun auf China eingestellt, er machte das Neben- zum Hauptfach, „es war klar, nach der Zwischenprüfung bin ich weg.“ Dabei wusste er bis dahin nichts über das riesige Land. Er machte einen Sprachkurs in Peking, ein Jahr, dann hängte er noch ein Kamerastudium dran, noch ein Jahr, „und schon während ich das angefangen habe, war immer der Gedanke da: Ich kann ja auch zurücklaufen.“ Zu diesem Zeitpunkt machte er eine kleine Erbschaft und er wusste: Es passt jetzt, es ist richtig, es ist gut. Wenn er etwas in China gelernt habe, dann sei es der Glaube an das Schicksal. „Wenn bestimmte Dinge in einer bestimmten Konstellation passieren, dann fühlt man sich wohl damit. Plötzlich hatte ich einen Plan und die finanziellen Mittel waren da und es war klar, das muss jetzt sein – das kann ich nicht mit 30 machen, wenn ich eine Familie habe und plötzlich denke, ich muss mir noch einen Traum erfüllen.“


Heute sitzt Christoph im Imbiss Mai Garten in München und sagt, dass er China vermisse, dass ihm die Wärme der Menschen fehle und sein Lehrer Xie, den er unterwegs traf – ein Mann, der seit 1983 durch China läuft und eine Weile gemeinsam mit ihm weiter zog. Wenn es ihm schlecht gehe, dann komme er hier her, sagt er und wenn er mit der Imbiss-Besitzerin Xiaomei Mandarin spricht, dann sieht er glücklich aus und ist es wohl auch. Christoph isst scharfes Gemüsehuhn mit Stäbchen, kaut, pickt eine Erdnuss aus dem Reis und dann redet er davon, dass ihn die Kommentare in seinem Reise-Blog manchmal geärgert haben. „Ich bewege mich zehn Stunden lang, laufe einen halben Marathon mit 30 Kilo Gepäck auf dem Rücken und wenn dann Leute sagen: ,Was macht denn der schon wieder Pause?’, dann ärgert mich das einfach.“ Kaum einer habe gemerkt, welche Arbeit er sich unterwegs machte, dass er jeden Schritt dokumentierte, fotografierte, filmte, darüber schrieb. „Die Leute stellen sich das halt so vor: Ich latsche da lang, bin total befreit, habe überhaupt keine Sorge, denke über mein Dasein nach und werde dabei total deep.“ Dabei habe er sich jeden Tag Gedanken gemacht, was er abends präsentieren könnte, er wollte nicht die üblichen China-Klischees fotografieren oder zehn Tage auf den perfekten Sonnenuntergang warten. „Meine Bilder sind vielleicht nicht die schönsten, aber sie haben den Wert, dass sie erlaufen sind. Das ist mein Selling Point, etwas, das mich auszeichnet, mein Werk.“ Immer noch ungeduldig Darauf ist er stolz, so wie er auf die erlaufenen Kilometer stolz ist, auch wenn er den Stolz gerne selbstironisch bricht. „Ich hab auch mal bei Minus 15 oder 20 Grad draußen gepennt im Zelt und fand mich voll geil, fand den Moment total heroisch – aber es hat mir keinen Spaß gemacht.“ Er hätte sich erhofft, durch den Lauf einen besseren Charakter zu erlangen, wie er sagt, aber „ich bin immer noch genauso, habe keinen Kulturschock und nix. Das ist sehr enttäuschend“, sagt er und zieht mit einem Lachen ein Netz aus Falten über sein gebräuntes Gesicht. „Es ist nicht so, dass ich jetzt total weise bin. Ich bin jährzornig und ungeduldig und ich dachte, wenn man wandert über so lange Strecken, dann wird man sich meditativen Zuständen annähern und mit sich ins Reine kommen – ne!“ Einmal habe er unterwegs den Fahrern eines LKW den Mittelfinger gezeigt, als die mal wieder laut hupten und ihn von der Straße winken wollten. Der Laster hielt in einer Staubwolke, er sah drei Typen mit tätowierten Armen, die mit einer Hand einen LKW-Reifen wechseln könnten und dachte sich: „Ich bin ja der geile Wanderer, so relaxt und meditativ und dann mache ich so einen Scheiß.“ Christoph sah die Typen diskutieren, was sie mit ihm machen sollten und wie sie schließlich doch weiterfuhren. Er hat solche Momente auch in seinem Blog dokumentiert, weil er ehrlich sein wollte, weil es ihm nicht darum ging, sich nur von einer guten Seite zu zeigen. Das Laufen sei letztlich eine sehr egoistische Sache. „Aber“, sagt er „nur weil du läufst, bist du nicht irgendwie anders oder tiefer“. Mehr über Christophs Lauf gibt es im Netz unter www.thelongestway.com

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