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Die Ausreißer-WG

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Seit 1995 nimmt die JUP, die Jugendpension in der Nockherstraße, junge Menschen auf, die in Not geraten und obdachlos sind. Die Einrichtung wird vom Jugendamt unterstützt und nimmt alle Personen unter 21 auf, die sich dort melden. Da die Zahl in den letzten Jahren allerdings stark gestiegen ist, gibt es seit 1. Februar eine Außen-WG in der Nähe des Tierparks. Dort wohnen vier Jugendliche für zunächst drei Monate. Zwei Sozialpädagogen organisieren mit ihnen zusammen ihren Alltag, unterstützen sie dabei, einen Ausbildungsplatz zu finden und helfen ihnen bei Behördengängen.


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Michi, 18 „Mit meinen Eltern gab es eigentlich ständig Streit. Entweder wegen der Schule, weil ich beim Klauen oder Schwarzfahren erwischt worden bin oder weil ich mein Zimmer nicht aufgeräumt habe. Ausschlaggebend war dann: Ich habe meiner Mutter Geld geklaut. Nicht viel, nur hin und wieder einmal zehn Euro. Als sie es dann schließlich merkte, wussten wir alle, dass es so nicht weitergehen kann. Kurz vor Weihnachten bin ich dann in die JUP in die Nockherstraße. Die Schule habe ich abgebrochen. Das ist eine lange Geschichte: Ich habe ADHS, eine Aufmerksamkeitsstörung, deswegen bin ich auf eine ziemlich teure Privatschule gegangen. Dort gibt es keine Verweise und Behinderte sind in den Unterricht integriert. Mir hat es eigentlich gut gefallen dort. Aber weil ich so wahnsinnig faul bin, musste ich die 10. Klasse wiederholen. Im Wiederholungsjahr war ich aber schon wieder ziemlich schlecht und meinen Eltern wurde das zu teuer. Deswegen bin ich dann auf die FOS gewechselt. Da ich aber ursprünglich auf einem neusprachlichen Gymnasium war, kam ich in Chemie nicht mit und bin ganz von der Schule runter. Früher habe ich wegen meiner ADHS-Störung Ritalin genommen, aber das habe ich abgesetzt und stattdessen meine Ernährung umgestellt: Kein Junkfood mehr und weniger Zucker. Das funktioniert auch und auf Ritalin war ich nicht mehr derselbe. Ich habe stundenlang Bücher gelesen, anstatt mit meinen Freunden Blödsinn zu machen. Die wollten irgendwann auch nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich will hier vor allem lernen, mit anderen zusammenzuleben. Ich glaube, das ist einfach wichtig für später. Momentan bin ich auf Arbeitssuche, um die Zeit bis zur Bundeswehr zu überbrücken. Ich habe nämlich einen Plan: Ich will zur Fremdenlegion. Ich glaube, ich brauche einfach einen Arschtritt, um meine Faulheit zu überwinden.“


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Lena, 20 „Mit 10 habe ich meine erste Zigarette geraucht, mit 13 den ersten Joint und mit 14 habe ich Heroin geraucht. Das erste Mal von Zuhause abgehauen bin ich mit 14. Das Geld für die Drogen habe ich mir geklaut. Deswegen habe ich natürlich auch oft Ärger mit der Polizei bekommen. Bei mir ist ziemlich viel schief gelaufen. Selbstmordversuche habe ich auch ein paar hinter mir. Mit 15 habe ich dann einen Mann kennen gelernt, er war 47. Ich weiß, das klingt ziemlich krass, aber wir waren tatsächlich zwei Jahre zusammen und heute ist er mein bester Freund. Natürlich war er wohl eine Art Vaterersatz für mich, da ich mit meinem Vater immer Probleme hatte. Mit meiner Mutter komme ich besser klar, wir haben auch jetzt noch viel Kontakt. Durch sie bin ich auch von den Drogen losgekommen. Sie hat mich einfach zwei Wochen in mein Zimmer eingesperrt. Ich bin seit zwei Jahren clean. Jetzt sind meine einzigen Drogen Kaffee und Zigaretten. Im Oktober werde ich ja 21 Jahre alt, da ist das alles doch nicht mehr lustig. Eigentlich müsste ich auch Ritalin nehmen, meine Stimmungen schwanken sehr stark und ich bin noch immer manchmal hyperaktiv und aggressiv. Ich muss mich einfach in den Griff bekommen. Deswegen möchte ich auch lieber noch nicht alleine wohnen. Hier fühle ich mich wohl, wir verstehen uns gut und haben oft viel Spaß miteinander. Nur manchmal erledigt Michi seinen Putzdienst nicht, das nervt. Schwierig finde ich auch das Rauchverbot im eigenen Zimmer. Ich muss dazu immer in die Küche gehen. Manchmal übernachtet mein Freund auch hier, aber das geht nur am Wochenende und er muss sich vorher anmelden.“


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Lucky Torabora, 19 „Ich komme aus Afghanistan und lebe jetzt seit zwei Jahren in Deutschland. Meine Heimat ist noch immer ein sehr unsicheres Land und aufgrund der Vergangenheit meines Vaters möchte ich lieber anonym bleiben. Fünf meiner Geschwister sind auch hier in Deutschland, ein Bruder ist in Afghanistan und ein anderer studiert in Indien. Mein Vater lebt schon länger in München, deswegen bin ich nach den ersten vier Monaten im Asylbewerberheim auch zu ihm gezogen. Dort ist es allerdings sehr eng: Acht Personen leben in einer 77 Quadratmeter großen Wohnung und mein Vater, na ja, ich würde sagen: Er ist eher ein Diktator als Demokrat. Ich habe zuerst in einer Reinigungsfirma gearbeitet, aber das lief nicht gut, weil mein Deutsch damals noch zu schlecht war. Dann habe ich mich für eine Lehre als Einzelhandelskaufmann beworben, aber dort hat man mir gesagt: Du brauchst einen Quali. Ich wusste das ja nicht, also wollte ich auf die Schule gehen und einen Abschluss machen. Mein Vater wollte, dass ich mir eine Arbeit suche und Geld verdiene. Auch deswegen haben wir uns immer öfter gestritten. Über das Sozialamt habe ich dann von dieser WG erfahren. Natürlich streiten wir uns auch oft – eigentlich sogar jeden Tag. Aber das macht nichts. Im Großen und Ganzen verstehen wir uns sehr gut. Mit meinem Vater habe ich noch guten Kontakt, ich besuche ihn und meine Geschwister oft. Die fragen mich dann immer aus, wie ich wohne und was ich mache. Am liebsten würde ich später Polizist werden – oder zumindest in einem Sicherheitsdienst arbeiten. Ich will für Sicherheit sorgen.“


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Jessi, 18 „Als ich fünf Jahre alt war, heiratete meine Mutter meinen jetzigen Stiefvater. Ich war schon damals dagegen und bin nicht zur Hochzeit gegangen. Mit sieben bin ich dann das erste Mal von daheim abgehauen und zu meiner Oma. Mit zehn habe ich auch ein Jahr bei ihr gelebt, aber auch das ging nicht gut. Ich habe in der Zeit auch ziemlich viel Mist gebaut. Also bin ich wieder zurück zu meiner Mutter und ihrem Mann. Mit 14 bin ich dann richtig abgehauen, weil mein Stiefvater mich geschlagen hat. Ich habe dann ein Jahr im Heim gelebt. Dann wurde meine Mutter schwanger und sie hat mir ein eigenes Zimmer versprochen. Also bin ich wieder zurück, aber statt ihr Versprechen zu halten, musste ich mir mit zwei kleinen Geschwistern das Zimmer teilen. Momentan sind wir zerstritten und ich habe sie seit vier Wochen nicht gesehen. Trotzdem ist meine Mutter nicht das Problem, sondern mein Stiefvater. Er ist bosnischer Moslem und vielleicht deswegen sehr streng. Seit Januar wohne ich jetzt hier in der WG. Ich würde uns vier einfach als „Gruppe“ bezeichnen. Wir streiten uns, wenn einer mal nicht aufräumt oder dem anderen etwas wegisst, aber wir mögen uns auch gerne. Trotzdem werde ich hier bald ausziehen. Ich mache nämlich gerade eine Ausbildung zur Bäckereifachfrau und muss um drei Uhr aufstehen. Ein Bus fährt um diese Zeit noch nicht und ich muss alleine durch den Park laufen.“

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