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Bühnenmenschen

Text: irrgaertnerin
Blickt man aus dem Fenster Richtung Norden, sieht man ein wenig Wald, aber nur wenn man sich auf die Zehenspitzen stellt, keine Sehschwäche hat und der Himmel klar ist. In der Küche stapeln sich noch die Kisten, im eventuellen Wohnzimmer hat Matthias einen Sitzsack in die Ecke gestellt, darauf sitzt im Moment er selber und ich stelle mich davor.

"Ich habe den Wald nicht sehen können," sage ich und trete gegen Matthias Bein. Matthias nickt, er sagt, es wäre wohl zu nebelig heute, vielleicht morgen dann, oder nächste Woche, ja nächste Woche würde das Wetter schon viel besser sein, ich solle dann wieder vorbeikommen und es nochmals versuchen.



Ich nicke dann auch, ich lege meinen Kopf schief. Das alles fühlt sich an wie der letzte Auftritt zweier sterbender Schwäne, gleich fällt der Vorhang, gleich gibt es Applaus. Die Menge tobt, Matthias umarmt mich, mit seinem verschwitzten Körper, er nimmt mein Gesicht in seine Hände, der Vorhang geht auf, wir treten davor, Hand in Hand. Matthias wiederholt die Umarmung, wiederholt die Sache mit meinem Kopf, jemand bringt mir Blumen, aus dem Augenwinkel sehe ich Marlene in einer Loge stehen, sie winkt herunter und ich hebe kurz meinen Kopf und lächle ihr zu. Wir verschwinden hinter dem Vorhang, immer noch Applaus, wir stürmen wieder nach vor, immer noch Applaus. Nach der dritten Wiederholung sage ich lachend zu Matthias: Einmal noch, ja? Und wir laufen durch den Vorhang, gehen seitlich ab. Später gibt es Sekt, Marlene läuft auf mich zu. Sie sagt, sie wäre noch nie so stolz gewesen. Matthias klopft mir auf die Schulter, seine Hand bleibt dann dort liegen. Ich lächle stundenlange und werde langsam betrunken. Matthias nimmt mich mit nach Hause, wir schlafen mehrmals miteinander. Morgens trinken wir den Kaffee schwarz.

Matthias sagt, ich solle nicht gehen, solle nicht wegziehen. Ich bleibe, ein Jahr später bin ich schwanger, am Stadtrand gibt es ein Haus mit Apfelgarten für uns. Wir heiraten ohne Gäste, wir stehen ein weiteres Mal gemeinsam auf der Bühne, es ist nur die unsere. Matthias und ich werden alt gemeinsam, die Kinder werden groß und schön. Der Apfelbaum trägt tatsächlich Äpfel. Ich sterbe vor Matthias, aber nur wenige Wochen, über neunzig Jahre sind wir alt geworden, meine Haut ist runzelig, an der Wand hängt ein Bild, es zeigt den Apfelbaum und meine Beine die davon herunterbaumeln.



Ich schüttle meinen Kopf, als Matthias mich nochmals anspricht, ich trete einen Schritt zurück. "Matthias, ich muss gehen," sage ich. Matthias erhebt sich langsam und ungeschickt. "Ist in Ordnung," sagt er, "komm mal wieder vorbei."

Draussen auf der Straße blicke ich mich nicht um, ein Taxi fährt vorbei, ich beschließe mein letztes Geld in einen bequemen Heimweg zu investieren. "Wohin soll es gehen?" fragt der Fahrer. Ich nenne eine Adresse. Sie gehört plötzlich nur noch mir.

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