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Am schlimmsten sind die kleinen Dinge, die kleinen Erniedrigungen, die Michal beobachtet, wenn sie auf Checkpointtour in der Nähe von Jerusalem geht. Wenn alte Frauen, die Essen eingekauft haben, ihre Taschen öffnen müssen, und die israelischen Soldaten alles einmal anfassen, was sich in den Taschen befindet: das Gemüse, das Brot, das Obst. Alles einzeln. Seit zwei Jahren arbeitet Michal für „Machsomwatch“, eine israelische Frauenorganisation – Machsom ist Hebräisch und bedeutet Checkpoint. Vor acht Jahren wurde die Organisation von Friedensaktivistinnen gegründet, die selbst sehen wollten, was an den Checkpoints geschieht. Heute arbeiten mehr als 400 Frauen für Machsomwatch. Sie beobachten, machen Fotos und schreiten notfalls sogar ein, wenn ein Streit eskaliert. Unter ihnen sind Michal, 21, die in Tel Aviv in einem Kino arbeitet und Shira*, 27, Geografie- und Geschichtsstudentin. Mehrmals pro Woche fahren die beiden zu den Checkpoints und berichten auf machsomwatch.org von Vorkommnissen. Was sie sehen, sagt Michal, sind Dinge, „die man nicht im Fernsehen sehen würde.“ Die Zahl der Checkpoints zwischen den Palästinensergebieten und Israel verändert sich ständig. Permanent baut die israelische Armee alte ab und woanders neue auf. Und das nicht nur an den Grenzen zum israelischen Kernland, sondern auch zwischen einzelnen palästinensischen Dörfern. Fast vier Millionen Palästinenser leben in den Gebieten und ein großer Teil von ihnen muss täglich mindestens einen Checkpoint passieren – um zur Arbeit, zu Verwandten oder zum Arzt zu gelangen. Immer wieder werden an den Kontrollpunkten Kinder geboren, weil Frauen nicht rechtzeitig zum Krankenhaus kommen, Totgeburten sind keine Seltenheit. „Wir verteidigen Euch!“ Im Schnitt überwacht Machsomwatch 30 bis 50 Checkpoints. Shira fährt zweimal wöchentlich zu drei bis fünf Checkpoints zwischen Jerusalem und der Westbank. „Den Horror erkennt man nicht auf den ersten Blick. Er ist viel subtiler“, sagt sie. Subtiler, für Shira heisst das, dass Soldaten am Checkpoint Wartende zwar nicht schlagen, dafür aber schnell ungeduldig werden. Und das nicht nur bei Frauen mit ihren Einkäufen. Junge Studenten auf dem Weg zur Universität zum Beispiel werden besonders lange untersucht. „Weil sie jung sind und Palästinenser und männlich, sind sie potentielle Terroristen. So wird das gesehen“, erzählt Shira. Manchmal müssen die Studenten dann in den Minivans warten, obwohl es sehr heiß ist. Manchmal müssen sie draußen stehen, obwohl es ein kalter Wintertag ist. Sie kommen regelmäßig zu spät in die Uni und die Soldaten wissen das. „Sie werden behandelt wie Tiere, und man sieht die Erniedrigung auf ihren Gesichtern, weil es ihnen nicht möglich ist, ihre eigene Situation zu kontrollieren.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Shira wollte etwas tun, sich politisch engagieren und gleichzeitig draußen vor Ort sein. „Nicht in einem Büro, wo ich Übersetzungsarbeit leisten muss oder so.“ Zu Machsomwatch ist sie durch Zufall gekommen. „Klar kannte ich es, die meisten in Israel kennen es. Und jeder hat eine Meinung dazu.“ Machsomwatch ist nicht einfach eine humanitäre Organisation, in Israel wird sie geliebt aber auch oft gehasst, weil sie Kritik an dem übt, was viele Israelis unter Landesverteidigung verstehen. Schnell ist dann von den „jungen Lesben“, oder „gelangweilten Omas“ die Rede. Doch die Frauen sehen nicht nur zu. Michal fährt vor allem zu Checkpoints rund um Nablus. Dort spricht sie auch mit den Menschen und gibt ihnen bei rechtlichen Problemen die Nummern von Personen, die vielleicht helfen können. Für das „Öffentlichmachen“ der Ereignisse an den Grenzübergängen bekommen die Frauen oft Ablehnung zu spüren. Shiras Bruder beispielsweise versteht überhaupt nicht, warum sie sich so einsetzt. Ihren Eltern traute sie sich zunächst gar nicht von ihrem Engagement erzählen. Und auch die Soldaten werden oft wütend, wenn die Frauen von Machsomwatch an die Checkpoints kommen. „Die sind nicht erfreut, wenn sie uns sehen“, sagt Michal. „,Warum kommt ihr her? Wir verteidigen hier auch Euch!’“, zitiert Shira die Reaktionen der Soldaten. Schaden für das Land Dass die Situation gerade mit den Soldaten nicht einfach ist, versteht Shira. „Das sind oft auch nur Leute, die ihren Job tun, und denken, dass wir sie daran hindern.“ Aber manchmal werden die Soldaten auch freundlicher, wenn die Machsomwatch-Teams kommen – so bekommen es die Frauen von vielen Palästinensern erzählt. Das Beobachten hat also seine Wirkung. Ein älterer General hat die Arbeit der Frauen sogar schon gelobt: Wenn es die Organisation nicht gäbe, hätte man sie erfinden müssen, sagte er zu Shira: ,Ihr haltet die Jungs ein bisschen unter Kontrolle’. Frei von Zweifeln ist Shira bei der Arbeit trotzdem nicht. „Oft ertappe ich mich dabei, dass ich sehr unfreundlich zu den Soldaten bin und es hinterher bereue.“ Trotzdem fährt sie weiter zu ihren Beobachtungstouren. Weil sie es nicht richtig findet, was die Regierung da auch in ihrem Namen tut. „Je öfter ich dort bin, desto klarer wird mir, wie falsch das ist“, sagt sie. Michal glaubt, dass die Besatzung nicht nur den Palästinensern schade, sondern auch Israel selbst. Shira ergänzt: „Über der ganzen Bedrohung durch Terrorismus verlieren wir unsere Moral.“ Die Sensibilität gegenüber den Menschenrechten könne man aber nicht abschaffen, bloß weil man sich im Krieg befände, findet sie. Viele Israelis interessiert es nicht besonders, was an den Grenzen zu den Palästinensergebieten vor sich geht. Sie sagen, dass sie auch dauernd durch Sicherheitskontrollen müssen – vor jedem Einkaufszentrum, vor jedem Kino. Shira macht dieser Vergleich wütend. „Es macht einen Unterschied, ob die Sicherheitskontrollen dafür da sind, dich zu schützen oder vor dir zu schützen.“ Vielleicht, glaubt Shira, kann man die israelische Besatzungspolitik nur verstehen, wenn man ihre Folgen gesehen hat. Deshalb sei es so wichtig, von den Vorgängen an den Grenzübergängen zu wissen. „Wissen ist Macht“, sagt Shira und lacht über die Floskel. Aber sie meint sie ernst. *Auf Wunsch von Shira und Michal nennen wir nur die Vornamen.

Text: lea-hampel - Fotos: Machsom-Blog auf flickr.com, ap

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