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China-Kolumne. Heute: Homosexualität in China

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Mitte Juli tauchte im größten chinesischen Internetforum Tianya ein

auf, das ein voyeuristischer Fahrgast in der Shanghaier Metro mit seiner Handykamera aufgenommen hatte: Ein Mädchen sitzt in der U-Bahn. Lange passiert gar nichts. Ein zweites Mädchen kommt hinzu. Sie legt ihren Kopf auf den Schoß des ersten Mädchens. Dann küssen sie und fassen sich an. Ende. Das verwackelte Knutschvideo ist in China innerhalb weniger Tage zu einer viralen Netzberühmtheit geworden. Nicht zuletzt wegen der hitzigen Forendiskussionen , in denen das Verhalten der beiden als „ungehörig und pervers“ bezeichnet wurde. In der gleichen Stadt eröffnete gestern Nacht zwischen Kolonialbauten und Wolkenkratzern auf dem Shanghaier Prachtboulevard „The Bund“ ein Großraum-Gay-Club für gehobenes Publikum.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wie groß die Akzeptanz von „Tongxinglian“, die gleichgeschlechtliche Liebe, in der chinesischen Gesellschaft ist, kann man schwer beantworten. In Shanghai, Beijing oder Shenzhen zum Beispiel gibt es schwulesbische Sportvereine und ein lebendiges Nachtleben, Homosexuelle gehören dort zu einer neuen gebildeten, kreativen Klasse. Auf der anderen Seite lief vor drei Jahren auch in Shanghai (so wie im restlichen China) „Brokeback Mountain“ nicht im Kino. Der Film wurde vom Zensurkomitee der Partei mit dem Prädikat „unzüchtig“ versehen. Bis 2001 galt Homosexualität offiziell als eine Geisteskrankheit. Heute werden Schwule und Lesben nicht mehr wie zu Zeiten der Kulturrevolution systematisch verfolgt und eingesperrt, aber ihr rechtlicher Status bewegt sich in einer undefinierten Grauzone: Homosexualität ist in China weder legal noch illegal. Die offizielle Linie lautet: Nicht drüber reden und nicht handeln. Ähnlich verfahren die Medien: Über Christopher Street Days im Westen wird regelmäßig im Panoramateil berichtet, über die Situation der Homosexuellen in China bekommt man dagegen kaum Informationen. Dabei war im alten China Homosexualität nichts Ungewöhnliches: Verglichen mit der vorherrschenden Moral im Christentum galt sie zu keiner Epoche als Sünde oder Verbrechen. Die Lehre des Daoismus besagt zwar einerseits, dass bei einem Verhältnis von Mann zu Mann oder Frau zu Frau die Balance zwischen Ying und Yang gestört ist, aber der Daoismus gesteht immerhin auch zu, dass ein Mann neben einer maskulinen Yang-Seite auch eine feminine Seite (Ying) in sich trägt. Die Präsenz von Weiblichkeit bei Männern wurde also nicht als befremdlich gesehen. Etwa wurden nahezu allen Herrschern der Han-Dynastie (206 v. Chr. - 220 n. Chr.) homosexuelle Neigungen nachgesagt. Männer beim Liebesspiel sind auf vielen alten Gemälden abgebildet und nicht wenige Gedichte aus der Vergangenheit erzählen von quasi-sexuellen Beziehungen zwischen minderjährigen Mädchen. Im 18. Jahrhundert wurden in dem Literaturklassiker „Der Traum der roten Kammer“ sowohl hetero- als auch homosexuelle Liebesgeschichten beschrieben. So lange ein schwuler Mann seinen gesellschaftlichen Pflichten nachkam und Kinder in die Welt setzte, wurden seine privaten Affären geduldet. Eine Umfrage der bekannten Sexualforscherin Li Yinhe aus dem Juni 2008 ergab ein gemischtes Bild: 91% der Chinesen unterstützen die Gleichstellung von Homosexuellen im Berufsleben. 80% stimmen der Aussage zu, dass Hetero- und Homosexuelle „gleichwertige Individuen“ sind. Allerdings befürworten nur 30% eine Homo-Ehe und eine Mehrheit findet, dass Homosexuelle keinen Lehrberuf ergreifen sollten. Nur 7,5% kennen einen Schwulen oder eine Lesbe im persönlichen Umfeld. Vermutlich liegt das daran, dass der gesellschaftliche Druck immer noch sehr groß ist: Ein öffentliches Coming-Out ist nach wie vor ein heikler Schritt. Häufig werden Homosexuelle nach ihrem Outing von ihren Arbeitgebern entlassen. Gerade in der chinesischen Peripherie ist eine homophobe Grundeinstellung tief in den Köpfen der Menschen verankert. Vereinigungen von Homosexuellen, Internetplattformen und Hotlines werden dort besonders oft von Polizeibeamten dicht gemacht. So bleibt nur, die eigene Sexualität im Geheimen auszuleben. Die meisten Schwulen und Lesben über 30 sind verheiratet und haben Kinder. Bis die ersten Gay-Parades auf dem Platz des himmlischen Friedens stattfinden können, wird noch sehr viel Zeit vergehen.

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