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China-Kolumne. Heute: Der wichtigste Moment im Leben

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Morgen, am 1. September beginnt in ganz China das neue Schuljahr. Für meine jüngere Cousine wird es das letzte vor den „Gao kao“, den großen Uni-Aufnahmeprüfungen sein. Meine Cousine ist 17, sie wohnt in unserer Heimatstadt Pingxiang, einer „Kleinstadt“ mit rund 500.000 Einwohnern und besucht die Stufe „Gao san“, das ist die dritte Klasse der Oberschule, die 12. Klasse in Deutschland. Wenn nach den Klausuren in Chinesisch, Mathe oder Chemie die Ranglisten neben der Tafel ausgehängt werden, steht ihr Name immer an erster oder an zweiter Stelle. Ihr offizieller Status wechselt regelmäßig zwischen „Bang yi“, und „Bang er“, also Klassenerster und Klassenzweiter.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ihre Lehrer sprechen sie manchmal nur so an. Deswegen muss sie seit Jahren auch immer in der vordersten Reihe sitzen, während Mitschüler, die auf den Listen weiter unten landen, in die hinteren Reihen verwiesen werden. Die Schule, auf die sie geht, liegt auf einem kleinen Hügel in Pingxiang und trägt den Namen „Pingxiang Oberschule Nr. 1“, die Schule mit dem besten Ruf in der Stadt. Die zweitbeste heißt „Pingxiang Oberschule Nr. 2“, die drittbeste „Nr. 3“ und so weiter. Die „Oberschule Nr. 1“ ist ein Internat, für meine Cousine ist das praktisch, weil sie abends, wenn sie gegen Mitternacht mit Nachhilfe und Hausaufgaben fertig ist, nicht mehr durch die dunkle, schlafende Stadt nach Hause fahren muss. In den Sommerferien und am Wochenende darf sie theoretisch heim, aber oft bleibt sie einfach da, weil alle dableiben und weil sie daheim auch nur wieder ihre Schulbücher aufschlagen würde. Es sind noch knapp elf Monate bis zu den großen Abschlussprüfungen, und jeder einzelne Tag zählt, an dem sie Übungen machen und sich vorbereiten kann. Ihre Lehrer kümmern sich besonders um sie und hoffen auf ihre guten Prüfungsnoten, denn auch für sie gibt es eine Art Liste im Lehrerzimmer, die über die Höhe ihres Gehalts entscheidet. Eigentlich hat es meine Cousine ziemlich gut. Nicht viele ihrer 60 Klassenkameraden werden es auf eine Uni schaffen. Meine Großeltern hoffen, dass möglichst viele ihrer Prüfungsergebnisse die 100 erreichen. 100, das ist die höchste Punktzahl, 1 mit *, und je öfter und näher sie der 100 kommt, desto näher kommt sie Beida, Qinghua und Fudan, das sind Namen der Universitäten, die in den Ohren chinesischer Eltern so verheißungsvoll klingen wie Harvard, Yale oder Stanford. Allerdings sorgt sich meine Familie wegen dieser Quoten. Beida, Qinghua und Fudan haben jeweils eigene Quoten für jede Provinz von China, die festlegt, wie viele Schüler pro Provinz aufgenommen werden dürfen. Meine Familie sorgt sich deswegen, weil nur vier Schüler aus der Provinz Jiangxi Erstsemester der Beida-Universität in Beijing werden können. Jiangxi ist eine bevölkerungsreiche und strukturschwache Provinz im mittleren Süden Chinas, es gibt zehntausende „Bang yis“ und „Bang ers“, und die Punktzahl, die man erreichen muss, um auf der Beida zu landen, liegt hier höher als in Beijing selbst. Meine Tante sagt, dass das einerseits ungerecht ist. Andererseits, und das ist ihr leider bewusst, spiegeln diese unterschiedlichen Schwellen die Bildungsverhältnisse in China wieder. Das Bildungsniveau in der Hauptstadt ist viel höher als das in den Provinzen, und deshalb reichen einem Schüler in Beijing vielleicht schon 90 Punkte in Mathe, meine Cousine braucht aber mindestens 97. Meiner Cousine gehen diese Listen, Quoten und Punkte ständig durch den Kopf, es ist wie ein permanentes Hintergrundrauschen, das nie aufhört. Bisher stehen die Zeichen für sie sehr gut, aber sie hat Angst, dass sie im nächsten Frühjahr patzt. Alle Bauarbeiten in der Gegend um ihre Schule werden in der Zeit der Abschlussprüfungen stillstehen, die ganze Stadt wird für einige Tage den Atem anhalten und auf Zehenspitzen laufen, damit die Klausuren in absoluter Ruhe abgehalten werden. Sie hat Angst, dass sie im wichtigsten Moment ihres Lebens von einem Blackout gelähmt wird und damit alles versaut. Dass einer ihrer Mitkonkurrenten einen Vorteil daraus ziehen könnte, dass er vor kurzem in die Partei eingetreten ist. Dass sich ihre guten Leistungen nicht in Punkten niederschlagen, denn es zählen nur die Punkte, die sie in diesen drei, vier Tagen erzielt, alle anderen aus dem Unterricht, und seien es noch so viele, sind egal. Dann gibt es wieder eine neue Liste und meine Cousine kann nur hoffen, dass die neue Liste so aussieht wie die alten.

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