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Wie die Universität mich enttäuscht hat. Zum Beispiel Theresa

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Ich habe eine Freundin, nennen wir sie Theresa. In Theresas Zimmer steht ein riesiges Bücherregal, höher als ein Basketballspieler und fast so breit wie ein Fußballtor, bis obenhin voll mit Büchern, die Theresa auch wirklich alle gelesen hat. Als ich sie das erste Mal besucht habe, stand ich zehn Minuten lang andächtig vor dem Regal, zog hier und dort ein Buch heraus, um es mir anzusehen, und dachte beschämt an mein Billy-Regal, 200 mal 40 Zentimeter groß und von der Nettobüchermenge muss man auch noch das unterste Fach abziehen, da lagere ich Pfandflaschen. Belesen zu sein nützt natürlich nichts, wenn man sonst ein Idiot ist. Aber das ist Theresa nicht. Vielmehr besitzt sie einige außergewöhnliche gedankliche Fähigkeiten: Sie kann Dinge sehr genau betrachten, ist aber gleichzeitig nicht blind für die Schönheit, die im Ungenauen liegt. Darüber hinaus hat sie hervorragende Meinungen und ist jederzeit bereit, in scharfen Debatten ihren Standpunkt zu verteidigen: dass Hermann Hesse ein durchaus alberner Schriftsteller sei, zum Beispiel, oder dass eine Renaissance der Metaphysik in der angelsächsischen Philosophie ja wirklich niemand brauche. Ich höre Theresa dann gerne zu, während ich auf dem Boden vor ihrem Bücherregal sitze.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im letzten Semester waren wir beide zum ersten Mal in einem Forschungskolloquium. Zuerst saßen wir nur eingeschüchtert herum. Es dauerte eine Viertelstunde, bis ich mich in die Gespräche der Professoren und Dozenten eingeschaltet habe. Nach einer halben Stunde habe ich ihnen mit irgendwelchen kruden Thesen widersprochen. Theresa sagte die ganze Zeit über nichts. Auf dem Heimweg machte sie irgendeine Bemerkung zu meiner übermütigen Gesprächsbeteiligung, die gleichzeitig bewundernd, verachtend und neidisch klang. Mir war das unangenehm, weil ich die Bilder von ihrem und meinem Bücherregal vor Augen hatte. Mir fiel plötzlich auf, dass Theresa an der Uni nie irgendwas sagt, selbst nicht in Proseminaren, in denen jeder unbedarft daherquatscht. Was sie von den Sachen hält, die diskutiert werden, weiß ich immer nur, weil sie es mir nach der Veranstaltung irgendwo erzählt. Theresa schien auch nicht die einzige zu sein, die sich so verhält. In meinem Bekanntenkreis fielen mir andere, durchaus geistesgegenwärtige Menschen auf, deren Stimme auf zauberhafte Weise versiegt, sobald der Dozent die Sitzung eröffnet. Am Anfang dachte ich, das sei vielleicht gar nicht so schlimm: Die einen reden eben, die anderen zeigen ihr geballtes Wissen lieber bei einer Arbeit oder einer Prüfung. Dann habe ich mir aber die Seminardiskussionen mal genau angehört, die Theresa scheute: Viel Unsinn wurde da erzählt. Bei den meisten Meldungen ist nach einem Satz klar, dass da niemand spricht, der sich für die Klärung irgendeiner Frage interessiert, sondern jemand, der gerne seine Stimme komplizierte Wörter sagen hört. Jeder breitet flächendeckend seine mittelmäßigen Meinungen aus und will gar nicht mehr aufhören - und die intelligentesten und belesensten Personen im Raum, die schweigen einfach! Ich habe mich geschämt, weil ich ja auch immer fleißig mitschwadroniere, aber ich bin auch wütend geworden. Überall nur männliches Alphatiergehabe, großzügige Ausschweifungen, eitle Wortmeldungen! Kein Wunder, dass Theresa da entweder der Mut oder die Lust fehlt, mitzumachen. Die Uni verschwendet die Hälfte des Potenzials, das jeden Tag auf ihrem Gelände zu Gast ist. Sie lässt einfach ein ganzes Bataillon an potenziellen Wissenschaftlern und Forschern im toten Winkel ihrer Seminare verschwinden. Die Intelligentesten schweigen, wenn ihre Meinung gefragt wäre. Das ist furchtbar. "Es in Schule, Büro und Politik doch genauso", sagen die Leute, aber das ist doch überhaupt keine Entschuldigung. Gerade darum sollte sich hier, in den heiligen Hallen des Wissens, doch jeder größte Mühe geben, dass es anders wird. Dass jeder, der wirklich etwas zu erzählen hat, es auch tut. Stattdessen halten die Theresas unter den Studenten lieber die Klappe. Das wirft ein ziemlich düsteres Licht auf die Uni: Eine blöde und gleichzeitig ungerechte Quatschbude für Hochschul-Machos scheint sie zu sein, wo nur aufgeblasene Wichtigtuer sprechen wollen oder können. Ich würde eigentlich lieber hören, was Theresa zu sagen hat.

Text: lars-weisbrod - Illustration: Eva Hillreiner

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