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Import-Hits von Marvin Gaye mit DJ Tony Hits aus Sao Paulo

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1973 gehörte ich zu einer Handvoll DJs in São Paulo, die den Ehrgeiz hatten, einheimische Samba-Rock-Schlager mit den gerade angesagten Soul-Importen aus Nordamerika zu mischen. Das war leichter gesagt als getan: Ich verdiente als Maurer so wenig, dass ich mir jede Plattenanschaffung genau überlegen musste. Und viele der Importscheiben kamen nur in winziger Auflage ins Land: Wer eine der Raritäten besaß, galt als König. Und manche Partygäste reisten mit dem Bus bis zu 200 Kilometer weit aus dem Umland an, weil sie das Gerücht vernommen hatten, ein bestimmter DJ würde einen ganz speziellen Song auflegen – in der Zeit vor dem Internet die einzige Möglichkeit die Platte tatsächlich zu hören.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Eines Morgens rief mich ein befreundeter Deejay an: Der einzige Importplattenladen der Stadt, das „Museu do Disco“, habe gerade eine neue Lieferung aus den Vereinigten Staaten bekommen. Klar, dass ich sofort den nächsten Bus nahm. Tatsächlich: Im Regal des Händlers stand ein Stapel verschweißter Alben. „Let’s Get It On“ von Marvin Gaye. Uns war zu Ohren gekommen, dass der Song ganz oben in den amerikanischen Charts stand, die Soul-Diskotheken von New York bis Miami ihn spielten. Aber hatten wir ihn auch jemals gehört? Nein. Die Schutzhülle durfte man erst nach dem Bezahlen öffnen. Für einen blinden Kauf aber würden wir umgerechnet ganze 15 Dollar riskieren, ein kleines Vermögen, das ein Loch in unsere Plattenkasse reißen würde und mit dem wir ebenso gut ein Dutzend brasilianische Singles finanzieren könnten. Also mussten wir einen Weg finden, den Marvin-Gaye-Song zu hören. Und dafür einsetzen, wovon wir genug hatten: Zeit und Geduld. Den ersten Nachmittag schob ich Wache vor dem Laden. Immer den Blick auf das Regal mit den frischen Importen gerichtet. Aber niemand, der das Marvin Gaye-Album zur Kasse getragen hätte. Den nächsten Tag teilten wir uns in Schichten auf. Drei Freunde von mir erklärten sich bereit, jeweils ein paar Stunden zu übernehmen. Und im Fall des Falles sofort Alarm zu schlagen. Als ich meinen Kumpel am späten Nachmittag ablöste, hatte ich mich geistig bereits auf einige weitere Stehmarathons vor unserem Vinyl-Mecca eingestellt. Aber dann passiert es doch noch: Ich sehe aus dem Augenwinkel einen älteren Mann zur Kasse marschieren – mit dem Album, dessen Cover ich nun schon tagelang studiert habe. Sofort stürme ich in den Laden. Erkläre dem Kunden meine verzweifelte Lage und flehe ihn an, auf dem hauseigenen Plattenspieler „Let’s Get It On“ anspielen zu lassen, bevor er mit seinem Schatz verschwindet. „Nur einmal, bitte, ganz kurz“. Meu Deus do céu, der Song ist tatsächlich gut. Ein Dancefloor-Filler. Die Nummer, wegen der die Leute selbst aus dem Umland anreisen würden. Ich muss ihn unbedingt in meiner DJ-Kiste haben. Und zwar sofort. Überglücklich schiebe ich meine Scheine über den Tresen. Was ich nicht ahnen konnte: Nur wenige Wochen später kam die brasilianische Pressung des Albums auf den Markt. Zu einem Bruchteil des Preises.

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