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Aufruf zum Ausbruch

Text: MayBee
Ich liege mit geschlossenen Augen in der Sonne.

Wenn ich leise bin, höre ich die Melodie des Sommers.

Wenn ich leise bin, höre ich den Geruch von frischem Gras.

Aber ich öffne die Augen und alles ist laut. Die Sonne scheint noch, trotzdem ist mir kalt, kalt wie die Angst.

Ich spüre die Kälte überall, in mir, um mich, sie verfolgt mich oder verfolge ich sie?

Wird es warm, wenn ich in die andere Richtung gehe?

Ist es dort leise, leise wie in meinen Träumen?

Ich probiere es aus, laufe in die andere Richtung, die Kälte ist verwirrt, ich laufe schneller, sehe eine Frau mit Kinderwagen, sie hat kein Gesicht, nur ein schwarzes Loch, aus dem die Kälte strömt. Wie jeden Tag hat sie gerade ihr Kind vom Kindergarten abgeholt, jetzt ist sie auf dem Weg nach Hause, zu ihrem Ehemann, in 2 Stunden kommt er wie üblich von der Arbeit, er ist Beamte im Kreisverwaltungsreferat. Bis dahin ist das Kind bettfertig und das Essen gemacht. Um Punkt 9 werden sie sich nebeneinander ins Bett legen, sich eine Gute Nacht wünschen, ohne darüber nachzudenken, was gut heißt und einschlafen.

Ich laufe weiter und sehe einen alten Mann mit Zigarette, ich kann den kalten Rauch riechen. Auch er hat nur ein schwarzes Loch an der Stelle seines Gesichts.

Er hat die Hoffnung schon längst begraben, heute war ein guter Tag, gut für ihn, den ganzen Tag betteln reicht für ein Bier. Er wird in seinen Park gehen, sich auf seine Bank setzen, seine Zigarette rauchen und sein Bier trinken. Die Leute, die ihn angaffen sind ihm schon seit Jahrzehnten egal, ja, eigentlich ist ihm alles egal, die Leute, die Welt, das Leben, er selbst.

Ich laufe weiter und versuche meine Angst auszutricksen, um es der Kälte schwer zu machen.

Ein kleines Mädchen rennt mir entgegen. Ein Lachen um Gesicht, ja, sie hat ihr Gesicht noch, sie strahlt mich an und mir wird warm, wenn ich sie ansehe. Ich nehme sie an der Hand, denn die Kälte hat mich schon wieder fast eingeholt. Wir laufen und laufen, lachen, sie lacht mich an, ich lache zurück. Unbeschwert lassen wir uns vom Wind tragen.

Doch plötzlich fange ich an wieder zu frösteln. Ich drehe mich um und da ist sie auf einmal, ein großes schwarzes Loch, direkt hinter uns. „Lauf“, schreie ich dem kleinen Mädchen zu und wir rennen los, rennen um unsere Wärme, unser Herz.

Ich stelle mir vor, wie es die Schöne und das Biest nicht mehr gibt, denn schön sind jetzt alle.

Irgendwann... werden sie versuchen ihr Gesicht zurückzubekommen, werden lieben und lachen, mit der Wahrheit die Kälte konfrontieren. Aufhören, zuzuhören und die falschen Worte zu glauben. Sie werden aufhören, Tag für Tag monoton vor sich hin zu leben und sich vom Alltag Stück für Stück auffressen zu lassen.

Zu betrügen, zu lügen, sie werden ihre Gier hinter sich lassen auf dem Weg zur Zufriedenheit.

Die Frau mit Kinderwagen wird ihr Kind im Kindergarten krank melden, ihr Mann wird sich frei nehmen, sie werden wegfahren, irgendwohin, egal wo, an einen unentdeckten Ort, da, wo noch etwas Unentdecktes übrig ist, zwischen all dem Neubau. Da, wo man ihre Gesichter wieder erkennen kann und die Monotonie keine Überlebenschance hat. Sie werden wieder sie selbst sein, vor innerer Schönheit strahlen und glücklich sein.

Auch der alte Mann wird spüren, was es heißt glücklich zu sein. Er wird die Bierflasche von der Bank stoßen, seine Zigarette ausdrücken und sich langsam, aber sicher zur Lebensfreude vortasten. Er wird lächelnd durch den Park spazieren, ihm werden weder die Leute, noch die Welt, das Leben und am wenigsten er selbst egal sein.

Aber warum? Warum lässt sich die Frau mit dem Kinderwagen von der Bequemlichkeit erdrücken und tut nichts dagegen? Warum hat der alte Mann keine Hoffnung mehr? Warum bleiben sie hängen in ihrem sinnlosen Leben und vegetieren vor sich hin? Warum verändern sie nichts, beginnen einen Umbruch, brechen aus, aus dem Alltag?

Ganz einfach. Weil es viel zu anstrengend ist.

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